Nach Die Blinden, Narcissus sowie dem Anfang dieses Jahres szenisch uraufgeführten Begehren ist Invocation bereits das vierte Musiktheater Beat Furrers. Es wird im kommenden Juli als Koproduktion zwischen Opernhaus und Schauspielhaus Zürich in einer Inszenierung Christoph Marthalers erstmals zu sehen sein. Das Libretto, das Beat Furrer gemeinsam mit Ilma Rakusa erstellt hat, basiert auf dem Roman Moderato cantabile von Marguerite Duras. Zur Handlung schreibt Furrer: «Eine Stadt am Meer, irgendwo. Eine Frau, Anne Desbaresdes, Gattin eines Fabrikanten, ist mit ihrem kleinen Sohn bei einer Klavierlehrerin. Schreie auf der Strasse, in der Kneipe unten hat ein Mann eine Frau erschossen; man sagt, sie habe es von ihm verlangt. Anne betritt die Kneipe, kehrt in den folgenden Tagen immer wieder dahin zurück, unterhält sich, in kurzen Sätzen, mit einem Unbekannten über den Mord, wie es dazu kam. Die Grenzen zwischen dem fremden Schicksal und ihrem eigenen verfliessen. In ihrer Beziehung zu dem Unbekannten scheint sich das Verhältnis der Ermordeten zu ihrem Mörder wiederholen zu wollen.» Wie schon in seinen früheren Musiktheaterwerken sind in Invocation für Sprechstimme, Sopran, Chor und Kammerensemble zwischen den Gerüsttext hier Duras' Roman weitere Texte von Juan de la Cruz, Ovid, Cesare Pavese sowie eine orphische Hymne eingefügt.«Deine Einsamkeit verdoppelt die meine», heisst es einmal in Ihrem letzten Musiktheater,
Invocation beginnt da, wo Begehren aufgehört hatte. Das eigentliche Thema meines neuen Musiktheaters ist der Gedanke der Überschreitung. Mich interessierte diese Frau, Anne, die im Rausch und im erotischen Begehren jene Ordnung der Dinge zerstört, die die bürgerliche Existenz, die Welt des kultivierten Bildungsbürgers ausmachen. Gefallen an Marguerite DurasŐ Roman hat mir die Klarheit, mit der ein Schrei als äussere Kundgebung solcher Überschreitung der bürgerlichen Welt der Arbeiter in der naheliegenden Fabrik und dem Spiel einer Diabelli-Sonatine in der Klavierstunde ihres Sohnes, der Anne beiwohnt, gegenüberstellt.Die Wahl eines Stoffes aus der zeitgenössischen Romanliteratur mag überraschend sein,
Dieses Interesse am Gesellschaftlichen, das in der Festszene des siebten Kapitels von DurasŐ Roman und damit in der siebten Szene von Invocation handfest wird, steht nicht eigentlich im Vordergrund. Vielmehr hat mich primär interessiert, dieser Frau und deren Stimme nachzugehen. Bereits in meinem früheren Musiktheaterprojekten war es so, dass ich eine Perspektive zum Mythos gesucht habe, dieser gab dabei eine Art Grundierung ab, zu der die anderen eingeschobenen Texte eine Perspektive öffnen sollten. Denn man muss sehr vorsichtig sein im Umgang mit solchen Mythen, man kann heute nicht mehr davon ausgehen, dass sie noch bedeuten, was sie einmal bedeutet haben gerade die Suche nach solcher Bedeutung interessierte mich. Die Protagonistin, Anne, ist denn auch aufgeteilt in drei Figuren: Die Schauspielerin, die die Texte aus dem Roman von Duras spricht, und diese Sprechstimme ist eigentlich immer das Zentrum des Klanges; dann ist da eine solistische Frauenstimme, die Texte ausschliesslich in spanischer Sprache singt, Gedichte von Juan de la Cruz sowie von einem Anonymus aus dem 16. Jahrhundert, von dem man einmal glaubte, es handelte sich um Teresa von Avila; dazwischen vermittelt als eine weitere «Figur» die Flötenstimme. Diese spanischen Texte beleuchten gerade den erwähnten Aspekt der Überschreitung im Text von Duras. So formuliert Juan de la Cruz in einem Gedicht, das ich in der letzten Szene verwendet habe: «Ich habe von meinem Geliebten getrunken und, wieder aufsteigend durch diese ganze Ebene, habe ich nichts mehr gewusst. Ich habe die Herde verloren, der ich vorher gefolgt bin.» Da ist eine Überschreitung im Sinne mystischer Vereinigung gemeint bei Juan de la Cruz Gott , bei Duras angedeutet im siebten Kapitel, der Festszene, in einem fast sakralen Ton.Die zentrale siebte Szene ist ja auch musikalisch ein Höhepunkt: darin werden die bisherigen
Richtig, das Fest ist eigentlich die zentrale Szene. Das Fest als verschwenderisches Aufbrausen des Lebens und auch als Infragestellung der Ordnung der Dinge. Auch in diesem Geschehen flackert ein Verlangen nach Zerstörung. Bei Duras ist die Szene fast schon eine Karrikatur, sie beschreibt das Fest aus ironischer Distanz. Gleichwohl ist mir dieser fast sakrale, religiöse Aspekt wichtig. Anne verstösst hier gegen alle Regeln des Anstandes in ihrem Rausch durch das ständige Trinken, aber auch in ihrem Verlangen nach dem erotischen Erlebnis, das ihr Gegenüber, der Mann, repräsentiert.Der in verschiedenen Zusammenhängen begegnende Schrei ist ja nur einer von zahlreichen
Es wird da eine Klanglichkeit imaginiert, die dann mit dem real Klingenden kontrapunktiert wird. Ich hüte mich vor illustrativen Verdoppelungen, vielmehr interessiert mich, wie eine bestimmte Semantik den Klang in Beschlag nimmt. Der Schrei beispielsweise wird in verschiedenen Formen thematisiert vor allem war dies für mich eine formale Herausforderung: Nicht eine Stimme einfach schreien zu lassen, sondern eine Form zu finden für diesen Bruch, und die Dynamik dann entwickeln zu lassen. In der ersten Szene, deren Musik in der fünften identisch wiederkehrt, habe ich in einer langen Entwicklung ein grosses Accelerando geschrieben, einen Strudel, der am Ende in einen lauten Klang mündet. Nicht nur dieser Schrei war mir wichtig, sondern die Dynamik, die dorthin führt. Der Schrei wird aber auch in anderen Formen thematisiert, etwa in den gehaltenen, crescendierenden Tönen zu Beginn der dritten Szene, oder am Schluss, wenn die Stimme, ungestützt durch die Instrumente, im Pianissimo singt: Man spürt die Gefahr, dass die Stimme bricht, und sie kommt dadurch in ihrer ganzen Intimität zur Darstellung.Schon in «Begehren» war die Sprechstimme ein wichtiges Element wie übrigens auch die
In Begehren ging es um eine Gegenbewegung der beiden Protagonisten: «Er» vom Sprechen zum Singen, «Sie» vom Singen zum Sprechen. Mich fasziniert einfach die gesprochene Sprache. Mir geht es darum, der Stimme wieder einen intimen Ausdruck zu verleihen. Der Gesang soll jene körperliche Befindlichkeit besitzen, die mich auch an der gesprochenen Sprache fasziniert dass ich allein am Klang der Sprache ganz viel Information über mein Gegenüber erhalten kann. Dort soll für mich auch der Gesang ansetzen, schon immer hat mich dieser Weg zum Singen hin beschäftigt. Ausgehend von der gesprochenen Sprache in ihrer ungeformten, unstilisierten Erscheinungsform über die Andeutung von Rhythmen oder klanglichen Filterungen wenn sich die Stimme etwa vom Stimmhaften zum Stimmlosen entwickeln soll bis zum eigentlichen Singen hin. Das Singen ist dann nicht mehr nur eine Konvention der Oper, sondern es gibt reiche Abstufungen zwischen dem Sprechen und dem Singen. Die Flöte ist dabei ein Verbindungsglied, sie ist mit ihrem sehr direkten Ansatz von Atemgeräusch eine Fortsetzung der Stimme. Die Flöte kann auch sprechen, in ihren geräuschhaften Klängen mischt sie sich wunderbar mit einer sprechenden Stimme.Die Vokaltechnik zumal in den Chorpassagen scheint einige Verwandtschaft zu derjenigen
Es gibt da gewiss eine grosse Nähe, ohne dass dies eine Gefahr bedeuten würde. Das kommt sicher auch daher, dass ich Sciarrinos Musik oft dirigiert habe. Diese Erfahrung mit seinen Opern haben mir sehr viel gegeben: Die Nähe zur Sprache, das Kreieren des vokalen Satzes aus der Sprache selbst heraus und nicht durch das Überstülpen eines abstrakten Systems, sei es harmonischer, rhythmischer oder anderer Art. Für mich war das eine entscheidende Begegnung, und dadurch angeregt ist sicher auch das Zurück zur gesprochenen Sprache. Diese habe ich zwar auch schon vorher eingesetzt, in den Blinden etwa, aber eben anders. Jetzt suche ich vor allem die Übergänge zwischen Sprechen und Singen. Jede Sprache kreiert auch ihren eigenen Klang nicht nur in der gesprochenen, das wäre trivial, sondern auch in der gesungenen. In Italienisch etwa würde ich nie gleich komponieren wie in Spanisch. Dabei habe ich die spanischen Texte von Juan de la Cruz für die Sopranstimme nicht verwendet, weil diese Sprache besser zu singen wäre das wäre Unsinn , sondern weil sie eine andere Kompositionsweise verlangt. Die deutschen Texte sind in Invocation ausschliesslich gesprochen, der Chor schliesslich singt in italienischer, altgriechischer und lateinischer Sprache. Letztere etwa würde ich nie in direkter Rede benutzen, sie zeichnet sich aber aus durch eine gleichsam abstrakte, eher harte Aussprache und die Vielzahl von Vokalen. In der zweiten Szene von Invocation gibt es eine Widmung an Sciarrino: Er hat mir ein grösseres Stück gewidmet, Studi per l'intonazione del mare für Stimme, Flöten, Saxophone und Schlagzeug, und dies ist nun ein Geschenk zurück.Ihre Musik zeichnet sich aus durch eine gleichsam verinnerlichte Dramatik, und obwohl der
Musikalisch habe eine grosse Faszination für die Überlagerung von Bewegungsabläufen. Dabei werden einzelne Schichten gefiltert, und so ergibt sich die Möglichkeit, die eine Schicht in die andere verwandeln zu können. Im Grunde genommen arbeite ich mit kleinen, wiederholten Klangpartikeln, die immer wieder anders gefiltert, anders artikuliert werden, so dass das klangliche Resultat immer wieder verwandelt ist. An diesem Gedanken, wie sich aus einem Wiederholenden, Repetierten Leben entwickeln lässt, habe ich in den letzten Jahren besonders intensiv gearbeitet. Bei der textlichen Dramaturgie ergab sich bei der Arbeit am Libretto, das in Zusammenarbeit mit Ilma Rakusa entstanden ist, eine Gefahr: Dass nämlich die Reduktion des Romanes auf ein Konversationsdrama zuläuft. Dies wollte ich mit allen Mitteln verhindern. Damit in Zusammenhang steht auch die Entscheidung, der Figur Annes keine Männerstimme als Partner gegenüberzustellen auch in Duras' Roman bleibt die Figur des Mannes seltsam abstrakt und schablonenhaft. Eingefügt haben wir deshalb in der vierten Szene auch Ovids Text von jenem Haus der «Fama», das im zwölften Buch der Metamorphosen geschildert wird. Es ist der mögliche Ort einer Handlung, jenen «Ort in der Mitte des Erdkreises», worin alle Ereignisse der Welt gehört werden können und wo alle Geschichten zusammenlaufen: «Von dort kann man alles, was irgendwo geschieht, sehen, sei es auch noch so weit entfernt, und jede Stimme dringt an das lauschende Ohr.»