PORTRAIT EINER OPER «Avatar» von Roland Moser VON ROMAN BROTBECK Am 28. September 1905 erschien in den Annalen der Physik der Aufsatz «Zur Elektrodynamik bewegter Körper» von Albert Einstein. Er entwirft darin anhand der theoretischen Beschreibung bewegter Uhren das Relativitätsprinzip, das von seinen Physikerkollegen später zur Relativitätstheorie umbenannt wurde. Dieser Aufsatz und der bei der Publikation des Aufsatzes bei der Redaktion der «Annalen» bereits eingegangene Nachtrag «Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?», wo zum erstenmal die Formel E = m_c2 erscheint, hat nicht nur grösste Teile der Physik des 20. Jahrhunderts geprägt, sondern auch einem vielgelobten Mythos des 19. Jahrhunderts den Garaus bereitet nämlich dem Äther. Der Äther ist jene in der damaligen Physik, Philosophie und Esoterik behauptete nicht- materielle, absolut ruhende Substanz, die den gesamten Raum umfasst und als Medium für Magnetismus, Elektrizität und Licht dient. Die den Gesetzen der Mechanik gehorchende Materie schwamm im ebenso «mechanisch» gedachten immateriellen Äther. Im populärwissenschaftlichen Bereich, der sich auch in Romanen und Novellen niederschlug, ermöglichte der Äther die Gleichzeitigkeit von örtlich getrennten Ereignissen. Der Stoff, aus dem die Science-Fiction und die esoterischen Entwürfe im 19. Jahrhundert gewoben war, hiess Gleichzeitigkeit nach Albert Einstein wurde es die Ungleichzeitigkeit, ja sogar der Rücklauf der Zeit und die Umkehrung von Ursache und Wirkung. Im 19. Jahrhundert wurden nicht nur Licht und Elektrizität, sondern auch Psyche, Seele, Magnetismus, Gefühle und alles, was unerklärlich und vor allem ungreifbar war, an den Äther delegiert. Die Seele wurde zum Ätherleib, der sich in esoterischen Schriften frei ausdehnen konnte; und weil sich in dieser unendlich gedachten Gespenstermaterie alles mit allem vermischte, konnten Ätherleiber auch miteinander verschmolzen, überlagert, ja sogar vertauscht werden. «Avatar» wurde im Französischen ein solcher Tausch genannt. Das Wort stammt ursprünglich aus dem Sanskrit und bezeichnete eine besondere Inkarnation Vishnus. Bis heute bedeutet «avatar» im gehobenen Französisch «Wandlung», aber auch «Schicksalsumschlag» oder «Fehlschlag».
Théophile Gautier (18111872) Am 17. Februar 1856 stirbt Heinrich Heine. Am 25. Februar schreibt der französische Schriftsteller, Journalist und (Gelegenheits-)Maler Théophile Gautier (18111872) einen Nachruf auf den deutschen Dichter, dem Gautier seinen grössten pekuniären Erfolg und sein Überleben bis heute verdankt. Mit dem Nachruf auf Heine übernahm Gautier, der Mann für alles, eine weitere Aufgabe in seinem Leben, nämlich die des Nachrufers seiner Freunde und Bekannten, die sein Leben prägten und denen er als Kritiker zu Ruhm und Ansehen verhalf: Delacroix, de Vigny, Ingres und Berlioz, um nur die allerwichtigsten zu nennen, werden von ihm in langen und bis heute eindrücklichen Texten zu Grabe getragen. Théophile Gautier führte ein abenteuerliches Leben. Er bereiste ganz Europa (bis an den Ural), Nordafrika, den nahen Orient. Er nahm an vielen wichtigen Ereignissen teil, berichtete von Königshochzeiten und Eröffnungen von Eisenbahnlinien, kommentierte das Kulturleben aus allen Weltstädten, vor allem aber immer wieder jenes von Paris, und zwar in allen Sparten. Wie ein ätherisches Wesen war Gautier bei allen möglichen und unmöglichen Begebenheiten anwesend, an massgeblicher Stelle beispielsweise bei der Überführung der sterblichen Reste von Napoleon I. nach Paris, bei der Hochzeit des russischen Zars, bei der Eröffnung des Suezkanals und bei den ersten Touristen, die sich im unteren Teil des Matterhorns (drei Jahre nach dessen tragischer Erstbesteigung) und auf den Gletschern des Mont Blanc-Massivs herumtummelten. Auch alle politischen Wechsel überstand Gautier unbeschadet, und die Freunde der unterschiedlichen und jeweils wechselnden Lager blieben ihm treu. In der Jugend war er als Demokrat verschrien, kam als Dienstverweigerer ins Gefängnis und experimentierte mit Haschisch (auch Balzac führte er in diese Droge ein); unter dem Second Empire war er mit dem Kaiserhaus befreundet und setzte sogar die Prosa von Napoleon III. in reich ornamentierte Verse; von Prinzessin Mathilde wurde ihm der Titel «bibliothécaire» und eine Lebensrente verliehen; die Verantwortlichen der III. Republik führten nach kurzem Unterbruch diese Rente weiter und sicherten Gautier damit weiterhin das Auskommen. Gautier, der nie heiratete, gelang es auch, mit den vielen Freundinnen und Mätressen, die er in komplizierten Netzwerken aneinander vorbei führen musste, zumal er teilweise noch Kinder mit ihnen hatte, lebenslange Beziehungen zu halten und all dies überstand er mit nur einer einzigen Duelldrohung. Duellen mochte Gautier nicht einmal als Sekundant beiwohnen. Als ihn Heine fragte, beim Duell mit dem Bankier Salomon Strauss diese Rolle zu übernehmen, sagte er nach anfänglicher Zusage schliesslich ab. Gautier erlaubte sich einen Lebensstandard, der sich am alleruntersten Rande der allerbesten Gesellschaft bewegte. Er hatte Bedienstete, besass ein Pferd und bewegte sich in den besten Kreisen. Aber um diesen aristokratischen Standard, der immer in die Mittellosigkeit prekärer Hochstapelei umzukippen drohte, halten zu können, musste er täglich schreiben. Es gab keine einzige Reise ohne ständiges Schreiben und Berichten für verschiedenste Zeitungen. Jede einigermassen bemerkenswerte Begegnung musste gleich in einen Gewinn bringenden Text verwertet werden. Bei seinem Begräbnis waren sie alle versammelt, Reste der ehemaligen kaiserlichen Familie, die Maler, Schriftsteller, Tänzerinnen und Schauspielerinnen, und auch seine Freundinnen und Kinder. Die Tänzerin Carlotta Grisi, der er mit dem Szenario zu Giselle den grössten Erfolg beschied, mit deren Schwester er zwei Kinder hatte und mit der er diese Schwester auch immer wieder betrog, schickte ein dermassen grosses Blumenbouquet, dass der Sarg des Beleibten nicht mehr zu sehen gewesen sein soll. Der wohl grösste Wunsch von Gautier, nämlich Mitglied der Académie fran?aise zu werden, ging nicht in Erfüllung. Seine zahlreichen Kritiken gingen vergessen. Einzig die Romane und Erzählungen sowie einige der Gedichte überlebten. «In Frankreich kann man sich bis heute nicht entscheiden, ob er das Genie ist, das Baudelaire ermöglichte, oder lediglich ein Trivialautor (natürlich ist er beides, aber erklär das mal einem FranzosenE?L).» Heute taucht der Name Gautier international nur noch als Szenograph des Ballettes Giselle auf. Es ist jene Arbeit, zu der er selber eigentlich am wenigsten beigetragen hatte. Der Stoff und die Disposition stammt von Heinrich Heine, die Musik von Adolphe Adam, der im gleichen Jahr wie Heine starb, aber von Gautier mit keinem Nachruf bedacht wurde; und beliebt wurde das Ballett wegen Carlotta Grisi, die das Werk überall zum Erfolg tanzte. Schon zu seinen Lebzeiten halfen allein die Tantiemen für dieses vielgespielte Werk Gautier über manche finanzielle Knappheit hinweg.
Avatar (1856) Zwölf Tage nach Heines Tod beginnt Gautier am 29. Februar 1856 die Novelle Avatar in der Zeitung Le moniteur universel in elf Folgen zu publizieren. Es ist Literatur des Seconde Empire vom besten und üppigsten, erzählt von einem der grössten Reisenden des 19. Jahrhunderts; ein Faltenwurf wird zum erotischen Erlebnis, ein vollgestopftes Boudoir zur Führung durch ein Museum für Parfum, Glasbläserei und Nippes; das Ornament feiert Urstände, und das, was wir Realität nennen, ist nur durch komplexe Spiegelungen, Schlaufen und Drehungen überhaupt zu erahnen; dazu gibt es viele Anspielungen an ein anspruchsvolles internationales Literaturprogramm. Aber beginnen wir mit der Geschichte: Octave de Saville ist depressiv und sucht nachdem alle Schulmedizin versagt hat Balthazar Cherbonneau auf, «une création falote, échappée dOun conte fantastique dOHoffmann». Cherbonneau ist eine Mischung von Spiritist, Drogenexperimentator und Wissenschaftler. Er erahnt bald die Ursache von Octaves Depression: Liebessehnsucht zu einer schönen Frau, einer polnischen Gräfin, die Octave zwei Jahre vorher in Florenz erfolglos zu erobern versucht hatte. Diese bleibt ihrem angetrauten Grafen treu und bedauert, die Liebe von Octave nicht erwidern zu können. Cherbonneau weiss in dieser ausweglosen Situation Abhilfe. Er lockt den Ehemann der Gräfin in sein Kabinett und führt ihm verschiedene Tricks vor, um ihn schliesslich mit einem elektrischen Schlag des Mesmerschen Apparates in einen Tiefschlaf zu versetzen. Daraufhin schlägt er dem verzweifelten Octave den Avatar, den Seelentausch mit dem Grafen vor, damit er im Körper des Grafen ungehindert die Gräfin lieben kann. Octave willigt nach kurzem Zögern ein. Bei gründlicher Aufheizung der Luft der Äther muss heiss sein, damit die Seelen sich aus den Körpern herauslösen gelingt das Experiment. Die Folgen des Tausches sind allerdings fatal. Octave im Körper des Grafen benimmt sich bei der Gräfin verklemmt und überschwänglich zugleich, so dass er ihr eigenartig und fremd vorkommt. Als sie ihn schliesslich auf polnisch anspricht, versteht Octave sie nicht und gibt vor, die Sprache vergessen zu haben... Der Graf im Körper von Octave umgekehrt begreift nach verschiedenen Wirrungen, was vorgegangen ist. Er sieht ein, dass er sich kein Recht verschaffen kann, ohne als verrückt erklärt zu werden, und er fordert seinen Gegenspieler schliesslich zum Duell heraus. Die beiden machen sich also daran, ihren eigenen Körper totzuschiessen. Octave allerdings schiesst ostentativ in die Luft und gibt seinen Platz frei. Er hatte bei der Gräfin keine Chance und nicht einmal in Gestalt ihres Gatten ihre Gefühle wecken können. Die beiden Männer bitten Cherbonneau um einen erneuten Avatar. Mit genügend Hitze gelingt dies, allerdings entweicht die Seele von Octave. Sie will nicht mehr in den ursprünglichen Körper zurück und verschwindet im Äther. Cherbonneau hat nun einen Toten am Hals, und um ihn zu entsorgen, hat er die glänzende Idee eines dritten Avatars. Er vermacht sein gesamtes Vermögen an Octave und schlüpft mit Hilfe des Mesmerschen Apparates selber in den Körper des Toten; seinen eigenen greisen Körper lässt er leblos zurück. Einige Tage später wird er öffentlich als Octave de Saville, Dr. Cherbonneaus Erbe, der Beerdigung seines früheren Körpers beiwohnen. Der Graf, zurück in seinem ursprünglichen Körper, überrascht die Gattin bei der Lektüre des Heinrich von Ofterdingen von Novalis, und die Gräfin ist glücklich, dass ihr Mann den sehnenden und begehrlichen Blick wieder verloren hat. Der Alltag kann seinen Betrieb wieder aufnehmen.
Die Daponteisierung von Gautier 1985 kauft Roland Moser in einem Antiquariat in Winterthur eine deutsche Übersetzung der Novelle Avatar von Théophile Gautier. Und sehr schnell entsteht die Idee, aus dem Stoff eine Oper zu machen. Das ist nicht einfach. Der Autor Gautier identifiziert sich vor allem mit Octave, mit dem er sowohl die soziale Situation als auch dessen unstetes Wesen und die Schwärmerei für schöne Frauen gemeinsam hat. Die schöne Gräfin, die Gautier in einer Bildfolge verführerischer bis lasziver Posen darstellt, ist eher eine hochgeschraubte Männerfantasie als eine richtige Frau. Der Graf ist weder mit seiner konventionellen Etikette noch mit seinen einfachen Reaktionen, z.B. mit der raschen Duellforderung, ein adäquater Partner von Octave. Und Cherbonneau selbst kommt bei Gautier kaum aus dem hoffmannesken Register heraus. Natürlich hätte es die Möglichkeit gegeben, Octave als passiven Haupthelden zu fokussieren. Octave als echter Liebender hätte dann einfach das Pech, an ein ziemlich konventionelles Paar und in die Fänge eines leicht überforderten Magiers geraten zu sein. Octave wäre der gute, aber unverstandene Fantast, die andern wären von allem Anfang in die Rolle gedrängt, dazu den belanglosen Hintergrund zu bilden. Roland Moser wählte einen andern Weg. Sehr früh stand für ihn fest, dass er eine sogenannt «richtige» Oper schreiben wollte, mit einer konkreten Handlung, die vom Publikum auch als solche verstanden werden sollte. Deshalb unternahm Moser das, was man eine Daponteisierung nennen könnte. Lorenzo da Ponte hat die Libretti zu den grossen italienischen Buffo-Opern von Mozart geschrieben und bei allen Opern eine polyperspektivische Anlage durchgesetzt. In der polyperspektivischen Oper gehen die Gedanken und Aussagen des Librettisten und des Komponisten ganz in den handelnden Figuren auf. Eine übergeordnete Idee dessen, was die Oper bedeuten will, gibt es nicht. Diese muss aus den verschiedenen Figuren und aus dem Verlauf der Handlung vom Publikum selber erschlossen werden. Es gibt auch keine vorgeordneten Wertungen und Erklärungen; die Personen kommentieren sich gegenseitig, nicht aber das Stück. Die Figuren treten nicht aus ihren Spielrollen heraus, das gilt auch und speziell für die vielen Verwechslungen und Verkleidungen, die da Ponte in allen Libretti für Mozart einbaut (Le nozze di Figaro, Don Giovanni und Cos?f fan tutte). Das Publikum muss sich beim polyperspektivischen Theater auf alles selbst einen Reim machen und das Stück in gewisser Weise selber zusammenstellen und erklären. Um dieses polyperspektivische Theater im Sinne des 18. Jahrhunderts erreichen zu können, nimmt Roland Moser als Librettist von Avatar gegenüber der Vorlage wichtige Akzentverschiebungen vor: 1. Bei Octave wird die Fantastik entzaubert und die Schwächlichkeit betont. Er wird zu einem depressiven Schwärmer, der auch musikalisch nie wirklich im Takt ist. Und bei der Gräfin benimmt er sich ähnlich unbeholfen wie Cherubino in Mozarts Figaro. Er will und kann bei der Gräfin nur Erinnerungen an eine längst vergangene adoleszente Erotik wecken, die in ihrer Masslosigkeit aber durchaus interessant und faszinierend bleibt. 2. Der Graf, der im Original Olaf Labinski heisst, wird zu Karol Czosnowski. Er gewinnt an Profil und repräsentiert den vorwärtsstrebenden, lösungsorientierten Zeitgenossen, der gerade deshalb seiner Frau der stärkere und vorerst auch bessere Partner ist. 3. Laura Czosnowska im Original heisst sie Prascovie Labinska ist nicht einfach die abgehobene Schönheit, die von allem nur wenig mitbekommt, sondern sie ist durch die plötzlichen Veränderungen ihres Mannes höchst irritiert und auch verführt. Wohl deshalb sucht sie in der Oper Doktor Cherbonneau auf, um Genaueres zu erfahren. Sie wird aber vom Dienstmädchen Jeannette abgefangen, die der Gräfin gleich eine Lektion über Männer erteilt. 4. Balthazar Cherbonneau wird aus dem Kontext des Spiritisten und Spinnners herausgelöst und in Richtung des modernen Naturwissenschafters gestaltet, der die Grenzen der Naturwissenschaft nicht beachten will und deshalb mit der Psyche zu spielen beginnt, angeblich zum besten seiner Patienten. Er ist in der Oper weit berechnender und ungemütlicher als im Original. So weiss er zum voraus, dass er Octave ins Jenseits befördern wird, um dann dessen Körper zu bewohnen. Offen ist nur, wann genau Cherbonneau den Entschluss für das perfide Vorhaben fasst. 5. Die grösste Veränderung gegenüber dem Original ist aber die Erfindung einer neuen Figur: Jeannette. Sie ist Haushälterin bei Cherbonneau. Wie die grossen komischen Figuren von Monteverdi bis Mozart betrachtet sie das Geschehen von unten. Sie kommt aus dem Volk und hat dessen Weisheit. Allerdings ist sie von Moser nicht einfach als lustiges Mädchen gestaltet, sondern durchaus auch als renitente Persönlichkeit. Sie spricht im Libretto einen süddeutschen Dialekt, welcher der Herkunft der Sängerin angepasst werden kann. In St. Gallen ist es eher ein österreichischer Dialekt. Mit diesen Modifikationen werden im Libretto alle fünf Personen gleichwertig. Jede Person hat ihren eigenen Charakter, ist in sich verständlich, und der Komponist unternimmt alles, um diesen Charakter in seiner Integrität klar darzustellen. Keine Figur wird als schwach, schlecht oder böse vorzeitig aufgegeben. Moser liebt sie alle gleich. Damit wird die Figurenkonstellation dem Theater des 18. Jahrhunderts angenähert: Die Figuren sind unterschiedlich informiert über das, was mit ihnen geschieht, das Publikum ist aber bestmöglich informiert und kann so die Aktionen und Reaktionen der Figuren verstehen und interpretieren. Dem Publikum soll nichts verborgen bleiben, damit es auch wirklich richten kann. Daraus erfolgt auf der Bühne eine Ästhetik der Klarheit, der Genauigkeit und der Einfachheit. Gerade dies macht das Theater aber schon im 18. Jahrhundert ausgesprochen komplex und politisch brisant: Alle Zwischentöne sind durchschaubar und haben ihren Grund; es gibt wenig unberechenbare Figuren; wir verstehen die Verwechslungen, die Rollenspiele, die Renitenz des Dienstpersonals und die ins Wanken gekommene soziale Gliederung der Gesellschaft. Die Aristokraten, die Bürger und die Bediensteten spielen zwar noch die ihnen zugedachten gesellschaftlichen Rollen, aber niemand glaubt noch an das Funktionieren, geschweige denn die Gültigkeit dieser sozialen Gliederung; und schon gar nicht auf dem Theater! Zwar führt beispielsweise Mozart mit Cherubino im Figaro und mit Don Giovanni in der gleichnamigen Oper die ersten grossen Unberechenbaren der Operngeschichte ein. Mozart öffnet hier den Weg ins romantische Theater, aber er hütet sich als grosser Rationalist davor, mehr als einen dieser unzuverlässigen Gesellen in seine Oper einzulassen. Auch bei Moser ist nur Octave eine solch unberechenbare Figur.
Wer weiss was? Von den fünf Figuren der Oper Avatar weiss Cherbonneau am meisten und nützt dies auch kräftig aus, ja er wird wie Don Alfonso in Cos?f fan tutte fast eine Art Spielleiter! Unbestimmt ist einzig, ob er wirklich schon von Beginn an die ganze Entwicklung kennt und die Geschichte bloss ablaufen lässt, um eine weitere Bestätigung seiner Theorie zu haben. Jedenfalls geht es für Cherbonneau um Humansektion, um einen Menschenversuch und einen weiteren Test der Mesmerschen Apparaturen. Allerdings kann Cherbonneau nur ahnen, was sich bei den avatarisierten Männern und ihrer Umgebung abspielt. Vor allem die Reaktion der Frau entgleitet seinem Einfluss. Aber dass es zum Duell kommt, scheint er zu wissen und in Kauf zu nehmen. Octave möchte zu Beginn am liebsten sterben. Da Cherbonneau vor allem für ihn den Seelentausch unternimmt, ist Octave die am zweitbesten informierte Figur. Gerade dieses Wissen raubt ihm aber in den entscheidenden Begegnungen mit Laura alle Unmittelbarkeit, ja sie lähmt ihn, weil er in der Haut des Grafen alles tut, um nicht als ein anderer aufzufallen. Umso deplazierter wirken dann seine grossen Liebeserklärungen. Karol, der Graf, möchte mehr wissen. Deshalb ist er überhaupt ins Kabinett des Doktors geraten. Er hat von den Experimenten zur Verbesserung der menschlichen Spezies gehört, von denen ganz Paris spricht. Dieser Wissensdurst wird ihm allerdings zum Verhängnis, denn er wird Opfer des Avatar. Und nur sehr langsam kommt er im Körper Octaves zur Erkenntnis dessen, was geschehen ist. Diese Erkenntnis führt zur Duellerklärung. Laura weiss nichts. Im Gegensatz zum Original bei Gautier wird sie aber sowohl durch die Veränderungen bei «Karol» und fast noch mehr durch das merkwürdige Auftreten des verwandelten «Octave», den sie als wahnsinnig einschätzt, sehr irritiert, so als würde sie die Seele des einen und den Körper des andern lieben. Dass am Schluss der richtige Karol zurückkehrt, ist für sie eine Enttäuschung. Sie singt: «Nein». Dieses Nein ist fast so vieldeutig wie das berühmte «Ach» am Schluss von Kleists Amphytrion, wo Alkmene den Menschen und nicht mehr den Gott vor sich sieht. Jeannette, das Dienstmädchen, weiss wenig, aber ahnt fast alles. Allerdings hat sie nicht das Bestreben, ihrem Herrn auf die Schliche zu kommen. Sie plagt ihn lieber mit ihren Störungen, mit dem Hereinplatzen im falschen Moment, mit dem Reinreden und -singen. Auch am Schluss nach dem letzten Avatar, wo ihr Herr tot und seine Seele im Körper von Octave ist, ahnt sie, was passiert ist. Jedenfalls benimmt sie sich ihm gegenüber nach wie vor mit der gleichen Renitenz. Zur Alleswisserin auf einer höheren Ebene wird sie aber mit dem letzten Lied, wo sie gerade die Allwissenheit und Macht des Mannes anklagt. Der Mann, der kennt nit Sinn no Ruh. Sein Zwang richt nix wie Unheil an, und kein Mensch lebt, ders wenden kann. Das geht so fort von Leib zu Leib Bis alls verreckt für Zeitvertreib. Es bleibt unbestimmt, ob Jeannette mit «dem Mann» den umgewandelten Cherbonneau und seine Experimente meint oder die Männer allgemein. Und es bleibt auch unbestimmt, ob das ihr eigener Text oder quasi allgemeines Liedgut ist, in dem sich Erfahrungen vieler Generationen akkumuliert haben.
Die Vermoserung des «Avatar» Bei Gautier fehlen alle Datierungen. Roland Moser datiert die Handlung der Oper auf die Zeit zwischen dem 25. und 27. September 1846. Er signalisiert damit Schichten in seiner Oper, die weit über das 18. Jahrhundert hinausgehen. Am 27. September 1846 schrieb Heinrich Heine in Paris sein Testament (zu Beginn des Monates hielt er sich übrigens in Tarbes in den Pyrenäen auf, dem Geburtsort von Théophile Gautier). Heine vermacht seine spärlichen Einkünfte seiner Ehefrau Mathilde Crescentia Heine. Viel ist es nicht, «denn ich liebte die Wahrheit und verabscheute die Lüge». Im gleichen Jahr hatte Chopin seinen letzten Sommer mit George Sand in Nohant hinter sich gebracht und sich endgültig mit ihr entzweit, vor allem wegen George Sands Sohn Maurice, der nun der Herr im Hause sein wollte und Chopin die illegitime Stellung immer wieder spüren liess. Im Juli dieses Sommers wurde Chopin in Nohant von der Gräfin Laura Czosnowska besucht. Sie war 15 Jahre früher unter dramatischen Umständen zur Witwe geworden, weil sich ihr Mann Janusz grundlos vor Eifersucht quälte und sich vor ihren Augen eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Chopin genoss die Anwesenheit der polnischen Gräfin, weil er endlich wieder Polnisch sprechen konnte. So nennt er Laura Czosnowska auch polnisch «Lorka». Die in diesem Sommer entstandenen Mazurken op. 63 sind ihr gewidmet. In diese geistesgeschichtliche Gleichzeitigkeit des Jahres 1846 stellt Roland Moser die Handlung und teilweise auch die Musik seiner Oper. Deshalb wechselt er den Namen des Grafenpaares von Labinski auf Czosnowski. Dass Chopin «eigentlich erst im Oktober nach Paris zurückkehrte und nicht schon nach dem 20. Sept., bitte ich wie den nicht berücksichtigten Selbstmord von Lauras Gatten unter a^künstlerischer FreiheitO^ abzubuchen, obschon beides genau genommen lediglich durch zu spät eingetroffene Informationen verursacht ist: Zielinskis grosse Chopin-Biographie ist erst 1993 auf polnisch und 1999 auf deutsch erschienen. Dass im übrigen Lauras Gatte nicht Janusz oder Olaf heisst, hat einzig musikalische Gründe (Inversio OA-AO). Die anagrammatische Beziehung KAROL/LORKA ist Zufall. Aber das wird mir niemand abnehmen. Tant pis.» Und hier erscheint er wieder: der Äther. Hinter den extrem auseinandergetriebenen und voneinander abgesetzten Figuren gibt es gemeinsame Verbindungen, und es gibt vor allem die Moserschen Davidsbündler, ein ganzes Netzwerk von Bezügen, von literarischen und vor allem im ersten Bild auch einigen wohl nur als Assonanzen wahrnehmbaren musikalischen Zitaten. Im zweiten und vierten Bild kommt es zu musikalischen «Überschreibungen» von Chopin-Werken. Cherbonneaus Testament setzt sich zu Beginn ausschliesslich aus Fragmenten von Heines Testament zusammen. Und wer sich jetzt aufmacht, wird vieles entdecken. Eine Anspielung hier, eine Assonanz da. Das Libretto ist gespickt mit Zitaten; auch in Jeannettes Liedern vermischt sich Selbstgeschriebenes mit Heine, Benn, den Wunderhorn-Gedichten, Kinderliedern etc. Und weshalb heisst sie wohl Jeannette? Wegen Jeannette Wohl und ihrem Doppelverhältnis mit Ludwig Börne und Salomon Strauss, die Heine öffentlich als unmoralisch geisselte, ist es nach Börnes Tod zum Duell zwischen Strauss und ihm gekommen. Heine überlebte es mit einer Schramme im Bein und soll dann wie Octave in der Oper! in die Luft geschossen haben. Schon hier sind die Bezüge von Heines Biographie zur Oper evident. Wenn man noch die letzten zehn Lebensjahre von Heine in Erinnerung ruft, sein Leben an Krücken und seine ironisch kommentierte Unfähigkeit zur körperlichen Liebe, ist man verführt, in Cherbonneau eine Immanation von Heine zu sehen. Octave umgekehrt erinnert an Chopins Züge. Allerdings ist es zu nahe liegend und deshalb irreführend, Heine, Chopin und Gautier mit einer der drei Männerfiguren der Oper zu identifizieren. Diese Figuren befinden sich gleichsam in jenem Äther, der alles verbindet und auffällige Gleichzeitigkeiten von Verschiedenem ermöglicht. Sie sind in jeder Figur unterschiedlich nuanciert präsent und gleichsam der Stoff, aus dem diese gewachsen sind.
Intervall-All Die vielen Bezüge, welche sich im Libretto und in der Musik ergeben, könnten vermuten lassen, dass Avatar eine komplizierte Oper ist, wo der Zuhörer erst nach dem dritten Mal irgend etwas versteht. Roland Moser bemüht sich aber nicht nur als Librettist, sondern auch als Komponist um grösstmögliche Klarheit. Möglichst alles soll verstanden werden; das beginnt bereits beim Orchester, das auf 31 Positionen gekürzt wurde, damit es die Singstimmen nicht überdeckt. Und in der zweistündigen Oper gibt es nur zwei Stellen, bei denen man halbwegs von einem Tutti sprechen könnte. Das meiste muss als mittelgross besetzte Kammermusik bezeichnet werden. Auch hier achtet Moser mit weiten Lagen, mit einer Vorliebe für die reinen Registerfarben und mit klaren rhythmischen Abgrenzungen auf Klarheit. Lieber zu wenig als zu viel sagen, lieber im Wenigen präzis bleiben als mit zu viel Informationen diffus werden. Mit neuer Einfachheit hat dies allerdings nichts zu tun. Das Klare und Wenige wird, gerade weil man es versteht, sehr schnell sehr komplex. Besonders deutlich kommt dies beim Intervallsystem zum Ausdruck, das Moser den Singstimmen zugrunde legt und aus dem häufig auch die jeweilige Harmonik abgeleitet ist. Es ist sehr einfach und wer einer komplexen Neuen Musik verpflichtet ist, müsste eigentlich sagen: zu einfach! Moser unterscheidet sechs Intervallfamilien: 1 = Quinte / Quarte 2 = grosse Sekunde / kleine Septime 3 = kleine Terz / grosse Sexte 4 = grosse Terz / kleine Sexte 5 = kleine Sekunde / grosse Septime 6 = Tritonus (verminderte Quinte / übermässige Quarte) Die Reihenfolge der Familien zeigt, dass Moser sein Intervallsystem im pythagoräischen Sinne versteht. Er leitet es also nicht aus der Obertonstruktur und damit vom Sonanzgrad der Intervalle ab, sondern aus der mathematischen Konstruktion des Ganztones (8/9), den Pythagoras aus der Oktave und zwei sich überschlagenden Quinten entwickelt hat. Auch Konsonanz und Dissonanz bilden eine untergeordnete Rolle in dieser Ordnung. (vgl. Schema 1) Für Pythagoras ist der Ganzton der Grundbaustein aller Skalen und Intervalle. Deshalb wird bei ihm die grosse Terz so gross, dass sie fast dissonant wirkt. Der Halbton wird quasi aus jenem Rest konstruiert, den die Ganztöne übrig lassen. Er schwingt mit der Proportion 243:256 sehr komplex. Noch irrealer nimmt sich der Tritonus mit der Proportion 512:729 (=29:36) aus. Moser verlangt keineswegs, dass das Orchester und die Sänger nun in pythagoräischer Stimmung spielen und singen müssen. Vielmehr ist das pythagoräische Denken die wichtigste Grundlage für den kompositorischen Ansatz. Man hört Mosers Musik auch in der gleichschwebenden Stimmung die übrigens von der pythagoräischen gar nicht weit entfernt ist sehr schnell «pythagoräisch». Im pythagoräischen System ist der Unterschied zwischen kleiner und grosser Sekunde bzw. kleiner und grosser Terz gleich gross oder grösser als jener zwischen Sekunde und Terz. Daraus ergeben sich folgende Charakterisierungen der Intervalle: 1 = Quinte / Quarte Konstruktive Basis des ganzen Tonhöhensystems. Aktive und den Tonraum kontrollierende Intervalle. 2 = grosse Sekunde / kleine Septime Der pythagoriäische Ganzton ist der Baustein des Tonhöhensystems und zugleich das kleinste noch kontrollierbare Element. Er steht für Realismus und Effizienz, aber auch für Konvention und Norm. 3 = kleine Terz / grosse Sexte Die kleine Terz vermittelt, hat in der Vertikale und Horizontale die gleiche Kraft. Es gelingt ihr auch, den «irrealen» Halbton einzubinden und zu vereinfachen (27:32). 4 = grosse Terz / kleine Sexte Hat bei Pythagoras kaum harmonische Kraft und setzt sich aus zwei Ganztönen zusammen, ist quasi ein dissonantes Intervall. Steht für Durchsetzung, Macht, Prinzipientreue. Sie steht wegen ihrer parasitären Nähe zur Naturterz auch für die Hybris der Männerwelt. 5 = kleine Sekunde / grosse Septime Entzieht sich bei Pythagoras der Konstruktion, ist der nicht kontrollierbare «Rest», das Unsystematische, das Sensible, das Gespür. Steht für Ahnung, Sehnen und Wehmut, aber auch für die Grenzen des Systems. 6 = Tritonus (verminderte Quinte / übermässige Quarte) Ist das zwielichtige Intervall, treibt die Konstruktion mit den fixen Ganztönen ins Unverständliche. Sprengt das System durch Systemtreue. Hält die Tonalität zwischen zwei Polen in der Schwebe. Jeder der fünf Figuren der Oper werden nun drei dieser Intervallgruppen zugeordnet (es gibt also 5 x 3 Zuweisungen). Cherbonneau 1 4 6 Jeannette 1 2 3 Octave 4 5 6 Karol 1 2 4 Laura 2 3 5 Die drei Intervallgruppen 1, 2 und 4 kommen dreimal (= 9 Zuweisungen), die drei Intervallgruppen 3, 4 und 6 kommen nur zweimal vor (= 6 Zuweisungen). Mit diesen Intervallgruppen, die die ganze musikalische Mikrostruktur bestimmen, entwirft Moser ein intervallisches Soziogramm, das die Figuren im einen Falle zusammenschweisst, im andern extrem und prekär auseinandertreibt. Keine gemeinsamen Intervallgruppen also keine Beziehung haben: Jeannette und Octave Cherbonneau und Laura Eine gemeinsame Intervallgruppe also eine ambivalente und gespannte Beziehung haben: Cherbonneau und Jeannette Octave und Karol Octave und Laura Karol und Laura Zwei gemeinsame Intervallgruppen also die höchste Abhängigkeit haben: Cherbonneau und Octave Cherbonneau und Karol Jeannette und Karol Jeannette und Laura Die Anlage zeigt es: Cherbonneau und Jeannette welch ungleiches Paar! sind insgeheim die Spielleiter der Oper (so wie es Don Alfonso und Despina in Cos?f fan tutte sind); sie haben mit den andern Figuren die engsten Kontakte und deshalb die grösste Macht auf sie. Die Nullbeziehung zwischen Cherbonneau und Laura ist konsequent, denn es ist das einzige Figurenpaar, das sich nie begegnet, und Laura ist die eigentliche Gegenspielerin von Cherbonneau, weil sie im Gegensatz zu ihm von nichts weiss und er sie deshalb auch nicht kontrollieren kann. Die Nullbeziehung zwischen Jeannette und Octave ist hintersinnig, weil Cherbonneau am Schluss der Oper in Octaves Körper ihr Herr bleiben wird. Zwischen der «Triole» Karol-Laura-Octave postuliert das Intervallmaterial Gleichwertigkeit. Alle sind sie sich ein bisschen verwandt, vor allem aber gleich fremd. Alle drei haben aber andere Gemeinsamkeiten: Zwischen Octave und seinem Gegenspieler Karol ist es die grosse Terz, das Intervall der Männlichkeit, der Prinzipien, des Tages und der Aggressivität. Zwischen Octave und Laura ist es die kleine Sekunde, «la sensible» das Intervall, das im System nur als Überbleibsel Platz hat, aber trotzdem dessen Dorn ist, weil es nicht ausgelöscht werden kann. Zwischen Karol und Laura ist es der Ganzton. Der normierte Baustein, aus dem die Gesellschaft gebaut ist, gleichsam ehe- und formbildend und direkt mit den Konstruktionsintervallen Quinte und Quarte verbunden. Es muss hier bei diesen Andeutungen zur Intervallsymbolik bleiben. Moser gelingt es damit, jede Figur präzis und durchaus komplex zu vernetzen und zwar hörbar! Die Figuren sind klar charakterisiert und sofort voneinander unterscheidbar. Beim Komponieren selbst hat Moser damit ein Sprachsystem gefunden, dass einerseits stark determiniert ist, andererseits ihm in jedem Moment erlaubt, individuelle Lösungen zu suchen und eine spezifische Lokalstruktur zu entwickeln.
All-Intervall Hinter den Intervallstrukturen taucht in der Musik als Harmonik, aber auch sukzessiv in den Gesangspartien, der All-Intervallakkord auf. Er ist wie eine Art Knoten, der alles zusammenhält. Gemeint ist jener Akkord, in dessen interner Struktur alle Intervalle erklingen. Häufig setzt Moser den Akkord in einer ganz unauffälligen Abfolge von Quart und grosser Terz. Die Kombination der vier Töne und ihre Umkehrungen ergeben den einzig möglichen Allintervallakkord (vgl. Schema 2). Dieser Akkord knüpft die Intervallstrukturen zusammen, bildet quasi den Träger des ganzen Systems. Es ist sicher nicht zufällig, dass er bei Cherbonneau, dem Spielleiter der Oper, besonders häufig auftaucht. Als Beispiel sei hier die 30-Ton-Reihe Cherbonneaus zitiert in ihrer Einfachheit und Schlüssigkeit ein kombinatorisches Meisterstück (Notenbeispiel 1). Die 30-Ton-Reihe gliedert sich in drei Transpositionen von 10 Tönen. Auch Alterationen und Enharmonik sind typisch für die Musik von Avatar. Ohne ins Gebiet einer Neotonalität einfachen Zuschnitts zu verfallen, übernimmt Moser grundlegende Verfahrensweisen der Romantik in seine Musik. Die Cherbonneau-Reihe entwickelt sich überdies auf dem Raster von Messiaens III. Modus mit der Neuntonskala und einem regelmässigen Wechsel von 2 Halbtönen (1) und einem Ganzton (2). c cis d e f fis gis a b c 1 1 2 1 1 2 1 1 2 Gleich mehrfach gruppieren sich die Töne in der 30-Ton-Reihe so, dass sie, zusammengezogen, einen Allintervall-Akkord in enger Lage ergeben würden. Wo immer man diese Partitur genauer studiert, begegnen solch hintergründige Strukturen von verblüffender Schlüssigkeit. Diese Reihe dient Moser allerdings nicht als feststehendes Material, das ähnlich wie eine Zwölftonreihe immer als Ganzes auftreten würde. Die Reihe ist vielmehr eine Art Tonhöhen- Steinbruch, aus dem Moser Fragmente herauslöst und die er auch durchaus frei und neu zusammensetzt. Dominierend bleibt das freie Komponieren mit den durch die Figuren vorgegebenen Intervall-Konstellationen. Dabei wirken diese Verfahrensweisen nie einengend, auch wenn das Intervallsystem der einzelnen Figuren streng geführt wird. Ein eindrücklicher Moment ist zum Beispiel das Duett zwischen Laura und Karol. Cherbonneau gaukelt dieses in jenem Moment vor, wo er den Grafen Karol endgültig in seine Fänge bringen will. Er greift in dessen Privatleben ein und spiegelt ihm die singende und klavierspielende Gräfin per akustischer Gleichzeitigkeit ins Kabinett. Zu solchem Zauber wird meistens gegriffen, wenn es darum geht, die Untreue des Partners zu beweisen; in diesem Fall aber will Cherbonneau bei Karol die Sehnsucht nach seiner Frau wecken. Die Stimme der Gräfin wird hereingespielt und der Graf singt die zweite Stimme dazu. Nun kommt es zum Kanon der Systeme. Die Gräfin singt in ihren Intervallen, Karol in den seinen. Laura Karol A 2 (gr. Sek.) _ 2 (gr. Sek.) B 3 (kl. Terz) _ 4 (gr. Terz) C 5 (kl. Sek.) _ 1 (Quarte/Quinte) Im Notenbeispiel 2 ist der Intervallkanon in der Numerierung der pythagoräischen Familie eingezeichnet.
Eine richtige Handlungsoper Die meisten Komponisten, die in den vergangenen fünfzig Jahren eine Oper schrieben, versuchten zugleich eine Oper und doch keine Oper zu schreiben. Vor allem versuchten sie mit verschiedensten Überlagerungen und Vor- und Rückgriffen jenes Gerüst, an dem sich die traditionelle Oper hält nämlich die Handlung zu zerstören oder bestenfalls daran anzuspielen. Moser tut mit grösster Insistenz das Gegenteil, restituiert auch in der Musik die Handlung und greift auf die musikalischen Verfahren der Handlungsoper zurück. Wie im 18. Jahrhundert gibt es Secco- und Accompagnato-Rezitative. Immer wieder gibt es Ansätze zu sogenannten «Nummern» (Liedchen, Tänze, Duette oder ein Terzett), die sich vom Rezitativ abheben und wie Inseln oder wie musikalische Konzentrationspunkte wirken. Zwar unterlegt Moser jedem Bild eine hintergründige und wohl eher unbewusst denn bewusst wahrnehmbare Grossform, die äussere Erscheinungsform der Oper aber erinnert eher an die frühbarocke Oper zum Beispiel von Monteverdi, mit vielen Wechseln, Einschüben und Modulationen. Das betrifft insbesondere auch den Gesangstil, wo von Parlando bis zu hochdramatischem Gesang alle Zwischenstufen komponiert sind. Roland Mosers Rezitative haben allerdings eine Besonderheit: Sie verzichten bewusst auf das gegenseitige «Schwatzen». Die Nebenrollen sprechen und singen nämlich nicht, sie werden nur gemimt. Die Handlung muss also aus den Fragen und Antworten der Hauptfiguren erschlossen werden. Das gibt den Rezitativen einen Telefon-Effekt. Damit erhalten die Handlung und die Hauptfiguren eine sehr spezielle Stilisierung. Meines Wissens ist es in der Operngeschichte von wenigen stummen Rollen in der Romantik abgesehen das erste Mal, dass eine solche Stilisierung mit einer gezielten Ausblendung der Gesprächspartner kombiniert wird. Für einige dieser Rollen wählt Moser Tänzer wohl eine versteckte Anspielung an den Ballettfanatiker Gautier und verstärkt dadurch die Stilisierung ein weiteres Mal.
Die Figuren und das Orchester Die Zahlen 2, 3 und 5 sind in der ganzen Oper präsent und greifen bis in die Struktur des Orchesters hinein: 5 Figuren, davon 2 Spielleiter und 3 in Liebesspiele verknüpfte; drei Intervallgruppen je Figur, drei mit zwei, drei mit drei gemeinsamen Intervallen. 3 Kontrabässe, 3 Hörner, 3 Posaunen, 3 Streichergruppen en pas de deux (2 Violinen, 2 Violen, 2 Violoncelli), 3 Schlagzeuger, 5 Paare en pas de deux souvent tr?s distancé (2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte und 2 Trompeten), 3 Continuo-Instrumente (Cembalo, Harfe und Akkordeon) und ein einziges Klavier, dem in dieser Oper zuweilen fast eine solistische, quasi «Chopinsche» Rolle zukommt. Die Instrumente sind relativ unsystematisch gewissen Figuren zuzuordnen. Bei Jeannette spielt das Akkordeon eine grosse Rolle, ergänzt mit der «Volksmusikbesetzung» von Klarinette und Kontrabass. Bei Karol hat das Klavier wahrscheinlich auch als Statussymbol eine grosse Bedeutung. Das Xylophon als Knocheninstrument taucht vor allem bei Cherbonneau auf, und Laura wird vor allem von den Holzbläsern begleitet. Die drei Hörner und die drei extrem schwierigen Kontrabasspartien bilden so etwas wie den «Generalbass» der Oper. Sie tragen die Musik über lange Strecken und geben ihr eine gewisse Grundfärbung. Beim ersten Hören mag erstaunen, wie leise und wie dünn zuweilen die Musik gesetzt ist. Auch hier wäre wieder an die frühbarocke Generalbassoper zu erinnern, wo das Orchester keinen Gesamtklang, sondern eine Klangpalette darstellte, derer sich der Komponist je nach Situation individuell bedienen konnte. Für die Orchestermusiker selber ergeben sich dadurch teilweise ähnlich anspruchsvolle Aufgaben wie für die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne.
Sechs Bilder Die Oper besteht aus sechs Bildern, wobei das fünfte und das sechste Bild direkt ineinander übergehen und vom Zuschauer wohl als ein einziges Bild aufgefasst werden. Im ersten und in den beiden letzten Bildern treten alle fünf Figuren auf. In den mittleren Bildern steht jeweils eine Figur im Zentrum. Alle Bilder sind mit Ausnahme der letzten beiden klar voneinander getrennt. Moser verzichtete auch darauf, Zwischenspiele oder eine Ouvertüre zu komponieren. Der Vorhang wird wieder in seinen alten Stand als szenisches Satzzeichen gesetzt. Das erste Bild nimmt einen Drittel der gesamten Oper ein und gliedert sich in viele Episoden. Es ist ein abwechslungsreiches und zum Teil sehr witziges und überraschungsreiches Capriccio, in dem alle wichtigen Themen und Figuren der Oper exponiert werden. Das zweite Bild ist im Gegensatz zum ersten völlig einheitlich geführt. Moser hat es als ein Palimpsest konzipiert. Palimpseste sind Überschreibungen, bei denen das Überschriebene oft nicht mehr lesbar ist. Als Symbol für Octave, der in die Form von Karols Körper gegossen wurde, komponierte Moser dieses Bild sehr streng über die A-Dur Polonaise von Frédéric Chopin. Diese Polonaise ist allerdings als solche nicht mehr hörbar. Einzig der Polonaisen- Rhythmus blitzt zwischendurch auf. Im Harmonischen mag Chopins Polonaise wie als ferner Klang wahrnehmbar sein, weil Moser aus der Spektralanalyse von Chopins Akkorden die eigene Tonhöhenstruktur ableitete. Das dritte Bild ist ein Rondo. Karol wird sich im Körper von Octave seiner hoffnungslosen Lage bewusst und beginnt in der Wohnung aufgrund verschiedener Indizien langsam zu realisieren, dass er Opfer eines Avatars geworden ist. Ein Teil des vierten Bildes, nämlich der Pas de deux, ist von neuem ein Palimpsest; diesmal bildet die erste der drei 1846 für Laura Czosnowska komponierten Mazurkas das Material. Sie war schon im zweiten Bild als Spieldosenmusik zu hören. Zu Beginn des Bildes tanzen die Tänzer in einer Reminiszenz an das zweite Bild einen Pas de deux. Die Anklänge an die Mazurka von Chopin sind übrigens deutlicher zu hören als die Polonaise im zweiten Bild. Das vierte Bild kulminiert in einem Terzett, das wie ein Ensemble von Mozart die psychische Situation jeder Figur exakt darstellt. Auch Moser komponiert die Ensembles dann, wenn die Figuren auf der dramatischen Ebene am weitesten auseinandergeraten sind. Das fünfte Bild ist als gross angelegte Chaconne über eine Tonfolge, die eine Art Verdampfung der 30-Ton-Reihe von Cherbonneau darstellen. Cherbonneau hat in dieser Szene keinen Text, nur in den Blechbläsern sind gleichsam «Befehle» von ihm an die Duellanten zu hören. Er selber sitzt die ganze Zeit unbeweglich am Schreibtisch, lebt das ganze wie in einer Meditation mit. Durch die Chaconne ist er in einem quasi ätherischen Zustand auch musikalisch die ganze Zeit präsent. Der Chaconne des stummen Cherbonneau sind in Gleichzeitigkeit die Duellszene und der Besuch von Laura bei Jeannette überlagert. Während die beiden Frauen in vertrauensvollem Ton miteinander «schwätzen», gehen beim Duell die beiden Kontrahenten im punctum contra punctum-Stil aufeinander zu. Octave im Körper des Grafen «verpasst» aber jeweils die Eins, weil Moser in der ganzen Partie von Octave nie einen Einsatz auf Eins komponiert hatte, um das Schwankende und Unbestimmte seines Wesens auszudrücken. Die sechste Szene beginnt damit, dass Cherbonneau sein Testament schreibt. Das Schreibgeräusch ist diskret verstärkt zu hören, eine Art musique concr?te. Wie in vielen Opern der Musikgeschichte ist Moser bemüht, die Handlung am Schluss nicht zerfasern zu lassen. Auch will er jeder Figur ihren Abtritt ermöglichen. Sogar die Seele des toten Octave bekommt eine kleine Schweigeminute. Wie aber bei jeder guten Oper treibt Moser das Tempo zum Schluss an und kostet die Auflösung des Knotens nicht lange aus. Weder beim zweiten Avatar von Karol und Octave noch bei jenem von Cherbonneau wird lange verweilt. Das erzeugt zum Ende hin eine Art Stretta, die übrigens auch wieder wie bei Mozart! davon ablenkt bzw. erst recht darauf aufmerksam macht, dass restlos alles offen bleibt und nichts gelöst ist. Zwar ist der unberechenbare Octave in den Äther entschwunden, aber werden Graf und Gräfin je wieder zusammenkommen? Wird Jeannette es mit ihrem neuen Herrn aushalten? Wird Cherbonneau im jungen Körper sich endgültig zum Monster wandeln und zu Doktor Mabuse werden? Auch Jeannettes Schlusslied hinterlässt nur Verwirrung.
Schneller als das Licht Im September 1992 Roland Moser steckte in den Arbeiten zum ersten Bild publizierte Günter Nimtz im Journal de Physique den Aufsatz «On superluminal barrier traversal», der sofort Furore machte, weil Nimtz etwas bis dahin Unvorstellbares gelungen war, nämlich die Lichtgeschwindigkeit um mehr als das Vierfache zu überbieten. Dies wurde mit dem sogenannten Tunneleffekt möglich. Partikel, die eigentlich durch einen Berg gar nicht hindurch dürften, weil eben der Berg dort ist, überwinden nicht nur das Hindernis des Berges, sondern queren diesen in noch höherem Tempo als wenn kein Berg da wäre. Für die Kollegen stürzte eine Welt ein, weil die Konstanz und die Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit ein Heiligtum der Nach-Einsteinschen Physik darstellt. Sie warfen Nimtz vor, es würde sich beim Experiment nur um Phasenverschiebungen handeln. Deshalb jagte Nimtz 1993 echte Information, nämlich Mozarts Jupiter-Sinfonie durch den Berg. Diese kam zwar am andern Ende nur in Fragmenten und zerstückelt an, weil viele Informationen auf der Strecke blieben, aber sie blieb immerhin erkennbar. Und vor allem: Sie kam gleichzeitig an! Richtig: nicht mit Lichtgeschwindigkeit oder vierfacher Lichtgeschwindigkeit, sondern im gleichen Moment, wie sie abgeschickt wurde. Im Tunnel gibt es keine Zeit mehr. Der Physiker Thomas Hartman hatte zwar schon 1962 diese Aufhebung der Zeit im Tunnel mit quantenmechanischen Berechnungen theoretisch angedeutet, aber niemand dachte daran, daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen. 1993 wurde sofort spekuliert, dass Nimtz den Science Fiction- Traum aller Relativitätstheoretiker erfüllen könnte: Bei Überlichtgeschwindigkeit würde sich die Zeit zurückdrehen und Ursache und Wirkung könnten vertauscht werden. Das Lottoresultat wäre vor der Ziehung bekannt und der Pistolenschuss würde vor dem Abdrücken treffen. Heine und wohl auch Gautier hätten sich auf so etwas gestürzt! So einfach ist es aber nicht. Nimtz hat in seinen Tunnelexperimenten nur die Gleichzeitigkeit, nicht aber die Umkehrung von Ursache und Wirkung bewiesen. Als Günter Nimtz 1993 in Köln diese Experimente machte, unterbrach Roland Moser die Arbeit an der Oper Avatar für sieben Jahren. In der Zwischenzeit komponierte er viele andere Werke, die sich zum Teil ebenfalls mit der Romantik beschäftigen. Moser hat einen Grossteil seines gesamten kompositorischen Schaffens dieser Epoche und einigen ihrer wichtigsten Repräsentanten gewidmet. In der Physik hat sich in diesen sieben Jahren ein heftiger Disput entwickelt. Hitzköpfe sehen in NimtzO^ Experimenten die Widerlegung von Einstein und seiner Relativitätstheorie; sogar antisemitische Ressentiments lebten wieder auf. Nimtz möchte die Entdeckung auf das beschränken, was sie ist, den allerdings erstaunlich auffälligen Sonderfall der Zeitaufhebung im Tunnel. Andere gehen aber weiter und postulieren, dass Nimtz weit mehr entdeckt habe, nämlich die Gleichzeitigkeit und damit nach Jahrzehnten der Relativität wieder den Träger dieser Gleichzeitigkeit, den Ätherwind mit seinem absoluten Mass. Und aus der Tatsache, dass die drei grössten Physiker und Mathematiker um 1905 nämlich Max Planck, Henri Poincaré und vor allem Hendrik Antoon Lorentz zwar die Relativitätstheorie und Einstein bewundert, die Idee des Äthers aber niemals oder im Falle von Planck nur widerstrebend aufgegeben haben, schliessen sie, dass diese drei weit mehr geahnt, aber eben letztlich keine Beweise gegen Einsteins Relativitätstheorie gehabt hätten. Indessen: "kein ernsthafter Physiker glaubt und braucht einen Äther, um unsere physikalische Welt zu beschreiben. Es gibt immer wieder Geister, die einen solchen gerne hätten..... für eine Seelenwanderung? Einsteingegner gibt es immer wieder, obwohl die Relativitätstheorie in den üblichen Bereichen nach wie vor Gültigkeit besitzt, es sei denn sie gerät mit der Quantenmechanik in Konflikt, wie z.B. beim Tunneln. Aber da hilft erst recht kein Äther." (Günther Nimtz in einem E-Mail an RB) Nicht nur Günther NimtzO^ Aussage, sondern auch Roland Mosers Oper könnte Esoterikern, welche die Ätherwinde und leiber wieder einführen möchten, eine deutliche Warnung sein: Die Gleichzeitigkeit löst die Probleme wahrlich nicht, - im Gegenteil! 1) Roland Moser in einem Brief an den Verfasser. Werkverzeichnis Roland Moser: http://www.musicedition.ch/composers/37d.htm