«AUF ZEICHEN UNVERMITTELT ABBRECHEN. STILLE.»
Annäherungen an neuere Werke von Alfred Zimmerlin
VON MICHAEL EIDENBENZ
Eigenartig ambivalente Erfahrungen macht, wer Alfred Zimmerlins Musik erstmals begegnet. Einerseits zugänglich, klanglich auf Anhieb faszinierend, irritiert sie anderseits Hörerwartungen
immer aufs Neue, setzt unreflektiert eingetretene Nähe wieder auf Distanz, verweigert sich
schneller emotionaler Identifikation. Zwar findet das faszinierte Ohr sehr wohl Ordnungen in all
den bisweilen üppig, ja geradezu verschwenderisch hereinbrechenden Klangerfindungen, doch
eine dahinter steckende Systematik ist kaum zu erkennen. Klarheit, die die Faktur von Zimmerlins Musik ausstrahlt, wird kompliziert durch die nicht leicht durchschaubaren Gleichzeitigkeit
von Verschiedenem. Und schon gar lösen sich von traditionellen Hörhaltungen ausgehende semantische Deutungen in Luft auf, kaum glaubt man, sie gefunden zu haben. Das abrupte Ende
von In Bewegung (Nature Morte au Rideau) für Klavier, 13 Solostreicher und Zuspiel-CD etwa,
ein Abbrechen einer eben erst lancierten Beschleunigungsbewegung des Solo-Klaviers: Soll es
schockartig wirken? Ist es ein Beispiel für die so oft komponierte Kategorie der «vergeblichen
Bemühung»? Eine Katastrophe womöglich gar? Eine Darstellung des Scheiterns als finale Konklusion eines knapp 20minütigen Dramas? Nichts von alledem scheint passend als Deutung für
dieses Ende. Gemäss des Komponisten mündlichem Kommentar hört das Stück hier eben «einfach auf. Wer als Zuhörer nun noch ein Allegro barbaro oder ähnliches erwartet, kann sich dieses
ja selber vorstellen. Ich bevorzuge die offen gebliebenen Möglichkeiten...» [Notenbeispiel 1]
Keine lineare Entwicklungsstrategie kann hier herausinterpretiert werden, kein Rollendrama hat
sich ereignet. Und doch ist mit diesem Klavier während des zweisätzigen Stücks ganz offensichtlich etwas passiert. Um zu erfassen, was dies ist, empfiehlt sich freilich weniger der feuilletonistisch zuspitzende Jargon als ein genauer Blick auf die Musik.
FREQUENZMODULATIONEN
Eine einfache Einleitung von 19 Takten eröffnet den musikalischen Raum. Vereinzelte Klaviertöne, liegende Streicherklänge bestimmen ihn, eine langsame und genaue Rhythmik führt zu einem ersten vollen Akkord. Die Töne sind offensichtlich einer nicht als Ganzes erkennbaren
Reihe entnommen, der sammelnde Akkord baut auf einem modulierten Obertonspektrum über
E auf. Doch dieser scheinbar so klare Eröffnungsgestus erfährt schon mit den ersten Takten auch
Irritation: Gleichzeitig mit der metrischen Klarheit wird ein zweiter Zeitfluss etabliert durch leise
raschelndes Klöpfeln der Geigen und Bratschen, die mit der Bogen-Spannschraube leicht auf den
Saitenhalter klopfen, geräuschhaft und metrisch vollkommen unabhängig vom tonfixierten restlichen Geschehen. Dieser zweite Raum bleibt offen, während nach den ersten 19 Takten nun auch
die «Ton-Musik» in Bewegung gerät. über bewegt rhythmisiserten Zweiklängen der Streicher erfolgen virtuose Einwürfe des Klaviers [Notenbeispiel 2], Frequenzmodulationen der Zweiklänge
in die Frequenzproportionen logarithmisch umwandelnden Zeitverläufen. Gegen Ende des ersten Satzes wird sich diese Relation umgekehrt haben: Die Zweiklänge liegen jetzt im Klavier,
die Frequenzmodulationen bilden den harmonischen Streicherteppich. Gleichzeitig tauchen aber
noch weitere Elemente auf: Sukzessive Streicherglissandi etwa, Ausschnitte aus modalen Skalen
im Klavier und in den Streichern, als kurze Einwürfe aufblitzend oder gedehnt über weite Strecken in den tiefen Streichern; zusehends auch Geräuschhaftes, reine Streichgeräusche auf dem
Steg, col-legno-Tupfer, Pizzicati, die ihre Tonhöhe in schnellem Glissando sofort verlassen...[Notenbeispiel 3] Diese ganz auf heterogenen Techniken fussenden Geschehnisse sind nicht
durch ein Prinzip konstruktiv miteinander verbunden, sondern ereignen sich quasi in arbiträrer
Gleichzeitigkeit. Dabei ergeben sich höchstens kurzfristig wechselseitige Dialoge, kleine lokale
Geschichten, auch klangliche überlagerungen, Konfrontationen der stufenlosen Glissandotöne
mit den unverrückbaren Tonhöhen des Klaviers, an deren temperiertes System auch die modulierten Frequenzen angepasst wurden.
WAHRNEHMUNGSMODULATIONEN
Während im ersten Satz bereits die Streicher fixierte Tonhöhen in verschiedene Richtungen verlassen haben, gerät im zweiten nun auch das Klavier unmerklich in klangliche Verflüssigung,
wird auf die gegebene Natürlichkeit seines Klangs befragt. Nicht Verfremdung, nicht Kritik an
den begrenzten und durch die Tradition längst vorbelasteten Möglichkeiten ist dabei das Ziel, es
wird auch nicht mit unkonventionellen Spielpraktiken experimentiert. Vielmehr geht es darum,
den Klavierklang gleichsam zu befreien, dessen «reine Wahrnehmung» möglich zu machen. Zunächst wird das Ohr verblüfft. Mit Beginn des zweiten Satzes erklingt ab Zuspiel-CD ein minimal gegen den ersten verstimmter zweiter Flügel aus Lautsprechern, die so aufgestellt sind, dass
sie nicht sofort als Tonquelle identifizierbar sind. Das eingespielte und das konzertierende Klavier begegnen sich überlagernd mit höchst dramatischem, stark kontrastierendem, signalhaftem
Material. Kaskaden von Oktavintervallen, Triller und Pendelbewegungen, schroffe Akzente und
melodische Bruchstücke prallen in heftiger Gestik aufeinander, während dieser ihrerseits verschiedene Zeitflüsse aufschichtenden Klavierverdoppelung und unabhängig von ihr eine Unisono-Streichermelodie in teilweise mikrotonaler Skalenbewegung beigefügt ist. Der eingespielte
Klavierpart mündet schliesslich, als ob eine Türe ins Freie aufgestossen würde, in ein anwachsendes, sämtliche vorangegangenen Obertonfinessen aufhebendes, sie gleichsam verschluckendes
Rauschen, während in diesem Augenblick auch das konzertierende Klavier sich von aller Determination löst und zu improvisieren beginnt, quasi befreit seinen eigenen Zeitfluss findet. Das
Rauschen verebbt, die Streichermelodie ist auch an ihr Ende gelangt, und nun kippt das Klavier
wieder zurück aus seiner improvisatorischen Freiheit in ein streng komponiertes, mit seinem
Skalen- und Accelerando-Prinzip klar fassliches kurzes Stück Musik. Dessen Gestik gleicht den
ersten Einleitungstakten, doch die Hörer-Wahrnehmung ist nun eine andere geworden. Die Modulationen, denen die Klänge unterworfen worden sind, führen dazu, dass der reine, gewöhnliche
Klavierklang nunmehr gleichsam entkleidet da steht. Die Zeitschichtungen und die zuletzt durchs
Tonbandrauschen weit geöffneten Klangräume lassen nach ihrem Wegfallen das Klavier in einem
konzentrierenden Fokus erscheinen. Sein Klang hat sich nicht verändert, aber dessen Wahrnehmung ist transformiert worden. Was es jetzt noch spielt, ist unprätentiös, es könnte genauso gut
auch etwas anderes sein, schlichte Klaviermusik, die irgendwann «einfach aufhört».
Diese ausführliche (und trotzdem natürlich noch immer verkürzende) Schilderung eines einzelnen Werks mag umständlich erscheinen, nötig ist sie doch, da sie verschiedene Elemente enthält,
die für Zimmerlins Schaffen charakteristisch sind. Da ist zum Beispiel das Prozesshafte, das keine lineare Geschichte erzählt, aber eine Bewegung etabliert, die ins Innere eines beobachteten
Objekts, hier des Klavierklangs, führt. Und da ist die Klarheit, die diesem Blick eigen ist: Zimmerlins Musik ist nie nebulös; falls jener Blick ins Innere metaphysisch genannt werden kann, so
entwächst er nie diffuser Spekulation, sondern genauer Beobachtung. Da ist auch die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitschichtungen, ein von Zimmerlin oft kompositorisch behandeltes Thema, zu dem er sich vor allem in seinem Klarinettenquintett explizit Gedanken macht: Wie Zeitdimensionen offen gelassen werden können, wie sich individuelle Zeitorganisationen improvisierender Musiker zur kontrollierten komponierten Zeit verhält, wie Polymorphie von Zeitstrukturen
mit allen Facetten gestaltet werden kann, das behandeln die sieben Sätze des Klarinettenquintetts
mit gleich viel akribischer Gewissenhaftigkeit wie erfinderischer Fantasie . Und da ist schliesslich die Freiheit der offen gelassenen Möglichkeiten, der Verweigerung konstruktiver Gängelung.
Dem 1955 geborenen und in Musikwissenschaft und Musikethnologie an der Universität Zürich
ausgebildeten Alfred Zimmerlin scheint kaum etwas mehr künstlerisches Unbehagen zu bereiten
als der Verlust frei wählbarer Möglichkeiten. Mag sein, dass hier die schweizerische Herkunft eine Rolle spielt, die seine Neugier gleichermassen auf kulturelle Phänomene Frankreichs wie
Deutschlands ausrichtet. Ganz bestimmt aber wirkt sich hier beim Komponisten eine elementare
Erfahrung des Improvisators Zimmerlin aus: Improvisierte Musik wird augenblicklich langweilig, wenn Reaktionen gefesselt werden und nur noch eine einzige Möglichkeit offen lassen.
OHNE BETROFFENHEITSGESTIK
Die Idee, verschiedenste konstruktive Systeme gleichzeitig einzusetzen, so dass keines von ihnen
zum dominierenden Prinzip werden kann, taucht denn auch seit längerem in Zimmerlins Werken
auf. So wenig wie hier logarithmische Berechnungen, Frequenzmodulationen oder Skalenbildungen Exklusivanspruch auf den inneren Zusammenhalt des Stücks erheben, so wenig ist beispielsweise in Paysage bleu (2000) für Chor, Orchester und Zuspiel-CD die das Stück beendende
All-Intervallreihe der Flöte von konstruktiver Funktion. Und wenn im Klavierstück 5 (1992) die
zweigestrichene Oktave mikrotonal so umgestimmt wird, dass gewisse reine Ober- bzw. Untertonintervalle gespielt werden können, so geht es durchaus nicht darum, ein neues «Reinstimmungs»-System zu etablieren. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Systeme hat vielmehr den
Zweck, Heterogenes zuzulassen, zusammen zu bringen zu einem Ganzen, Verschiedenes zu
integrieren, nicht auszuschliessen oder gar zu eliminieren. Ein lineares Drama lässt sich in einem
Raum, in dem «alles» Platz hat, aber nicht erzählen, ja wird gerade dadurch explizit verhindert:
Ein solcher Raum könnte sich unendlich weiter ausbreiten, die Klangereignisse sind so lange
die Fantasie des Komponisten ausreicht beliebig erweiterbar, keines von ihnen kann eine
Protagonistenrolle mit individuellem Schicksal einnehmen. Die kurzfristig hochexpressiven und
temperamentvollen Gesten heben sich gleichsam gegenseitig auf. Die Neutralisation der
subjektiven Betroffenheitsgestik ist letztlich ein Ziel dieser Musik. Subjektivität kann sich aus
der Musik entfernen, indem der Komponist auf steuernde Werkzeuge möglichst ganz verzichtet
oder eben auch bei Zimmerlin , indem die Zahl der Werkzeuge theoretisch beliebig gross
gewählt wird.
KÖRPERLICHE KLÄNGE
Wo freilich die Werkzeuge beliebig sind, droht auch das Material beliebig zu werden. Dass
dieses verbindlich bleibe, kann durch zwei Dinge garantiert werden: Durch die Form und durch
das verlässliche kontrollierende musikalische Ohr. über letzteres verfügt der Komponist, der
selber musiziert: Alfred Zimmerlin tritt seit je als improvisierender Musiker in verschiedensten
Formationen auf und hat dabei ein feines Sensorium für die energetische Kraft, für Spannungen,
reaktives Verhalten, für die Körperlichkeit eines Klangs im Raum beim Live-Auftritt entwickelt
(letzterem mag auch die Tätigkeit des Musikkritikers Zimmerlin förderlich sein, dem der
Unterschied zwischen live gespielter und konservierter Musik alltägliche Erfahrung ist). Das Ohr
als Kontrollinstanz spielt dort die gewichtigste Rolle, wo nicht nur Systeme, sondern auch das
gestische Material extrem heterogen gewählt ist. Der erste Höreindruck von Weisse Bewegung
(1998) beispielsweise hinterlässt zu Beginn zunächst Ratlosigkeit. Die gestisch und klanglich
denkbar isolierten Brocken, die Violoncello, Klavier und Schlagzeug hier einwerfen, scheinen in
keinerlei nachvollziehbarer Relation zueinander zu stehen, selbst der dramatische Effekt des
Zusammenprallens von Disparatem scheint keine Tendenz zu verfolgen. Allmählich erst (Weisse
Bewegung ist mit 37 Minuten eine von Zimmerlins auführlichsten Kompositionen) ist die
Vielschichtigkeit der Spannungsrelationen zu erkennen. Und mit zunehmender Dauer des Stücks
stellt sich auch genau diese «Tendenzlosigkeit» als sinnhaft heraus, das auf Ordnung erpichte Ohr
ist aufgefordert, von der ersten emotionalen Klangfaszination wieder Abstand zu nehmen und
sich in dieser von Dingen aller Art besetzten Landschaft frei zurecht zu finden.
Im zweiten Satz von Weisse Bewegung taucht dann aber auch jene Form auf, die Zimmerlin oft
zur Kontrolle über das quantitative Gleichgewicht verwendet (sie bestimmt u.a. auch im zweiten
Satz von In Bewegung (Nature Morte au Rideau) die beiden Klavierpartien). Zimmerlin nennt sie
durchaus wortspielerisch «Lohse»-Form. Er bezieht sich damit auf gewisse Bilder Richard
Paul Lohses, auf denen einzelne Farbflächen zwar eigengesetzlich, ohne determinierte Beziehung
zueinander, doch so angeordnet erscheinen, dass in der Summe von jeder Farbe die gleiche
Fläche eingenommen wird. Was also als zerklüftete Folge disparater Einzelereignisse
wahrgenommen wird, erweist sich in seiner Ganzheit als Fläche, als «Leinwand», deren
Flächendimension theoretisch beliebig gross sein kann, jedenfalls nicht von zielgerichteter
Entwicklung zu einem dramaturgisch voraussehbaren Ende determiniert wird.
Das metaphorische Stichwort der «Leinwand» ist für Zimmerlins Musik in mehrfacher Hinsicht
bedeutsam. Eine ganze Reihe von Werktiteln spielt auf Paul Cézanne an: In Bewegung (La
Montagne de Sainte-Victoire), In Bewegung (Nature morte au Rideau), Paysage bleu, In
Bewegung (La pendule de marbre noir). Natürlich aber sind die dazugehörigen Stücke keine
«Bilder einer Ausstellung», es geht auch nicht um die musikalische Transkription von Stilmitteln
bildender Kunst in der Art des Impressionismus. Die beigefügten Bildertitel verweisen vielmehr
auf den Blick des Malers, der im Falle von Cézanne und La Montagne Sainte-Victoire mit
geradezu obsessiver Wiederholung sein Objekt gleichsam durchdringt, indem er es darstellt.
Farbe und Form sind sein Material, der Zielpunkt des Blicks jedoch liegt im Inneren des Objekts,
dort wo es nicht mehr materiell fassbar ist. Analog dazu ist kompositorisches Material auch für
Alfred Zimmerlin Mittel und nicht endgültiger Zweck. Ob er nicht offen gelegte Reihen
verwendet oder Ausschnitte aus seinem eigenen Kompendium gruppierter modaler Skalen (Braus
für Blockflöte und Tonband etwa beruht wesentlich auf einer heptatonischen, im Abstand einer
kleinen Septime repetierenden Skala): Es ist immer Werkzeug und nicht Sinn.
Das hat nichts mit
Geringschätzung zu tun: Material ist kostbar, bestimmt oft die kompositorischen Fragestellungen
(deutlich etwa im Clavierstück 4, in dem abschnittweise kompositorische Probleme wie
Klangmutationen, gezielte Beschränkung auf bestimmte Intervalle oder einzelne Akkorde,
Oktavfixierungen gewisser Töne gleichsam unter der Lupe betrachtet werden). Material ist aber
immer auch historisch vorbelastet: Dass Komponieren den Umgang mit Geschichte, mit
geschichtlichen Zeiten bedeutet, ist für Zimmerlin eine Selbstverständlichkeit. Die Materialien
repräsentieren für ihn die Spuren einer «Zeitsäule», an deren Spitze das Stück in seiner
Gegenwart steht. Gegenwart ist daher auch immer heterogen! Beispielhaft für die Erfahrung der
Zeitsäule mögen die Neidhartlieder für Sopran, vier Renaissance-Blockflöten und Zuspielband,
uraufgeführt an den 3. Internationalen Blockflötentagen in Basel und wiederholt in Kairo, stehen:
Wie viereinhalb Jahrtausende Vergangenheit in einer Stadt mit einer Vitalität sondergleichen
präsent sein können, hat Zimmerlin bei einem einmonatigen Aufenthalt in Kairo selber erfahren.
Seine Neidhart-Lieder spiegeln diese Erfahrung, indem sie durch Minnelieder Neidharts von
Reuental die eigene kulturelle Vergangenheit mit zeitgenössischen Gedichten Ingrid Fichtners
verbinden, durch die Verwendung von Renaissance-Instrumenten weitere Historie einflechten
und sich damit an die besagte Zeitsäulen-Spitze stellen.
Eine besondere und in Zimmerlins neueren Werken sehr oft verwendete Kategorie belasteten
Materials ist schliesslich der Klang der Umwelt. Seit dem Klarinettenquintett (1990) tauchen
immer wieder Bandeinspielungen mit konkreten Geräuschen alltäglichen Lebens in seinen
Kompositionen auf. Beim Klarinettenquintett wird zuletzt eine im Freien aufgenommene Reprise
des Anfangs mit diversen Zivilisationsgeräuschen eingespielt, was die Idee der zyklischen
Wiederkehr ihrerseits eine historisch-traditionelle Idee in einen anderen Raum transformiert.
In Zerstreut in Arbeit mit Wörtern für Sopran, Klavier und Tonabnd sind es Stadtgeräusche
Kinderlachen, Verkehr, Glockenschlagen, Regen eines ganzen Tageszyklus', die komprimiert
auf die Dauer des Stücks sozusagen ein Fenster offenlassen, vor dessen Hintergrund die
artifiziellen Klänge des Klaviers und die gesungenen Texte Elisabeth Wandelers in ein urbanes
Biotop gestellt erscheinen. Und in Braus für Blockflöte und Tonband sind neben dem
elektronischen «Braus» auch Naturgeräusche, Vogelstimmen, das Nagen von Bibern (welches
mit einem Heinrich-Ignaz-Franz-Biber-Zitat zu verknüpfen Zimmerlin sich nicht nehmen liess)
zu hören.
Derartige im Konzert-Kontext fremde Klänge umgeben die Komposition mit neuer
Raumwirkung, öffnen akustisch das Dach und die Wände des Konzertsaals und geben den Blick
in die äussere Welt frei. Und da die «biotopischen» Klänge im Verhältnis zu den komponierten
offenkundig zufällig sind, wirken sie auch befreiend: Die artifizielle Komposition tritt derweil in
den Hintergrund, wird manchmal auch zugedeckt oder verschluckt, stellt das Selbstverständnis
ihrer Notwendigkeit auch ein Stück weit in Frage. Der Effekt für den Hörer ist dabei und das
gilt auch für die kontinuierlichen, elektronisch hergestellten Rauschen von In Bewegung (Nature
morte au Rideau) oder Paysage bleu : Entlastung, Leichtigkeit, Schönheit, Stille. Alfred
Zimmerlin vergleicht sein Komponieren mit der Vorstellung eines Raums, der voll verfügbaren
heterogenen Materials ist. Hinter diesem Raum aber ist ein anderer Raum zu sehen, ein Ort, wo
etwas zum Stillstand gekommen ist. Zu erreichen ist dieser andere Ort nicht, er bleibt immer in
Bewegung, aber der Blick auf ihn ist möglich, wenn das Material zur Seite geräumt ist. Nicht der
Weg dorthin wird komponiert, keine bildhaften Geschichten werden erzählt, die Modulation des
Klaviers in In Bewegung (Nature morte au Rideau) ist nicht das dargestellte Gleichnis für diesen
Weg. Aber vielleicht ereignet sich der Weg ja in jenem Schlussmoment, wo das Klavier so
unvermittelt abbricht. Vielleicht fallen genau hier diese zwei Zustände in eins: In Bewegung.
Stille.
Werkverzeichnis Alfred Zimmerlin: http://www.musicedition.ch/composers/60d.htm
Weitere Informationen: http://www.timescraper.de/komponisten/alfred_zimmerlin.html