Température, pression, etc. comme conditions dans les phénomènes chimiques peuvent être pris pour modèles des actions physiques sur les faits psychiques. Ainsi pour expliquer les effets de la musique, on peut songer à un schéma ou une courbe représentant la variation non spécifiée dont on ne représente que T. P, etc. Temps = excitatation de l'excitabilité - cf. Veille. Ainsi une mélodie s'exprime f(h, t) = 0. Une mélodie est une loi partielle. Mais h les hauteurs...

(Paul Valéry, Cahiers VIII, p. 169.)

Foto: Ute Schendel

 

UNAUFHÖRLICHE SPIEGEL

VON ANDREAS FATTON

Die polnisch-schweizerische Komponistin Bettina Skrzypczak

«Intuition», sagt Bettina Skrzypczak, «ist ein heller, konzentrierender Moment, der von Erkenntnisbedürfnissen nicht abzutrennen ist.» (1) Es ist ein Moment sammelnder Klarheit, der neben jedem intellektuellen «System», zu dem das Komponieren Zuflucht nehmen möchte, ebenbürtig bestehen kann. Es ist nicht nur ein Moment, der ein kompositorisches Ziel erfasst oder eine Fragestellung identifiziert, sondern auch jener, der den gangbaren Weg dazu sucht und festlegt. Diese Wege selbst immer wieder zu definieren, gehört zu den methodischen Bedingungen des Komponierens, Bedingungen allerdings, die selbst wieder im veränderlichen Gravitationsfeld abgesteckter kompositorischer Ziele stehen. Was sich im methodischen Verfahren intuitiv und konstruktiv simultan entfalten kann, birgt jene erkenntnistheoretischen Implikationen, die die Komponistin exemplarisch etwa für die Umwandlungen des Formbegriffs in der Frühromantik nachgezeichnet hat. (2)

Annäherungen, Horizonte

Ein immer neu formulierter Erkenntnisanspruch, der sich aus soziologischen oder künstlerischen Zusammenhängen ebenso entfachen lässt wie er sich aus dem Methoden- und Metaphernvorrat physikalischer oder mathematischer Wissenschaften zu bedienen weiss, eint und trennt Bettina Skrzypczaks Werke. Was aus der Erschöpfung des Vorangegangenen visionär wiedererwacht, trifft vielleicht auf die gleiche Welt, und wirft doch einen anderen Blick auf sie.

Jeder kompositorische Ansatz ist ohne Zweifel geprägt von bestimmten Grundmetaphern, die darüber Auskunft geben, wie sich musikalisches Material ausdifferenzieren lässt. Xenakis' Begriffen von Klangmassen ähnlich, liegen diese für Skrzypczak vor allem in Klang-Dichte- oder Klang-Bewegungs-Strukturen. Diese beziehen sich - hier im Unterschied zu Iannis Xenakis - auch auf lineare Prozesse, deren feinste zeitliche und dynamische Ausformulierung zu den Grundmorphemen Skrzypczakscher Klangsprache(n) zählt. Gerade in Solo-Stücken wie Mouvements für Flöte (1999) manifestiert sich der virtuose Umgang mit komplexen linearen Bewegungsabläufen. Fast widersprüchlich scheinen mag es zunächst, dass sich diese linearen Ketten auf einer Zeitachse abspielen, der die Komponistin jegliche Linearität abspricht. Zeit ist vielmehr Ausdruck «energetischer Zustände», oder genauer: sie ist gleichsam als Reichweite zu verstehen, die Klänge benötigen, um akustische Wirkung zu entfalten. Dieser energetischen Reichweite oder Strahlung entspricht ein innerer Höraufwand, der sie zeitlich absorbiert - aber auch mitgestaltet. In der Erfahrung heterogener Dauern kann sich nur deshalb ein Gleichgewicht einstellen, weil sie unterschiedliche Intensitätsgrade durchläuft.

Es überrascht zudem nicht, wenn Skrzypczak Bewegung als eine Grundlage ihres Werkes bezeichnet. Stillstand, statische Klänge enstehen im und aus dem Fehlen von Bewegung, sie sind immer abgeleitet. Die mikrointervallischen, forschend-wachsamen Linien der Streichquartette, die Energieausgleiche in den Glissandibögen des Orchesterstücks SN 1993 J (1995) oder die unmittelbaren musikalischen Entladungen des Klavierkonzerts (1998), sie alle basieren auf Beweglichkeiten unterschiedlicher Spontaneitäts- und Geschwindigkeitsgrade.

Die mathematische Vorstrukturierung musikalischen Materials mit der musikalischen Struktur selbst zu verwechseln, wäre ein Kategorienfehler. Mathematisches - historischen und methodischen Verschiebungen im Verborgenen ohnehin unterworfen wie andere vermeintlich «unzeitliche» Wissensformen - führt über eine grundsätzliche Grenzlinie nicht hinaus. Bei allem Interesse an den Formulierungsmöglichkeiten abstrakter Regeln, zielt Bettina Skrzypczaks Werk im Grunde auf die Frage humaner , nicht rein formaler Komplexität. Das Individuum als Kern und Träger einer Gesellschaft, der es gleichzeitig auch unterworfen ist, bildet den Ausgangspunkt dieses Ansatzes. Kompositorischer und denkerischer Horizont bleibt selbst für die Instrumentalwerke die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Subjekts. Was auf einen gesellschaftlichen Kontext im allgemeinen reflektiert, wird kompositorisch zum Gestus der Einmaligkeit.

Wie bei Lachenmann lassen sich hier die «zwei Gefühle» Leonardos ins Spiel bringen: es ist immer ein Einzelnes, das Allgemeines befragt, in der Erkenntnislust auf dieses hinschreitend, aber auch in der Furcht, seinen Entdeckungen nicht gewachsen zu sein. Vor den enthumanisierenden Erkenntnistechniken heutiger Gesellschaftszusammenhänge Einzelnes zu bewahren, bedarf es künstlerischer Intervention, die selbst jeweils nichts anderes als eine Einzel-Frage ausspricht.

Im Besonderen lässt sich Arbeit und Umgang mit Stimmlichem auf die Dichotomie zwischen Subjekt und Gesellschaft beziehen. Wenn die Stimme - kommunikativer Vermittler zur Aussenwelt und denkbar Menschen-Innigstes zugleich - sich zum Gesang «erhebt», verweist sie gerade durch diesen ideellen Überschuss auf sich selbst. Ihr unnachahmliches Klangspektrum birgt Individualität, ohne Ausbrüche vitaler Beweglichkeit aus ihr zu verhindern. Nicht weniger «Stimme» kann auch jedes Instrument sein: in der häufig als erste Orientierung fruchtbaren Unterscheidung zwischen Linearem und Flächigem schreibt sich jene als instrumentale Einzelaussage ein. Die Klangcharakteristik jedes Instruments gehört zum Grundmaterial musikalischer Vorstellungskraft, fordert diese gar heraus, indem sie sich als individueller Widerstand «zu Wort meldet». Komponieren heisst nicht zuletzt, selbst diese Widerstände noch festzulegen: «Man schreibt nicht nur das, was man liebt; man komponiert nicht nur für Besetzungen, die einem liegen, man versetzt sich vielmehr in Zustände unterschiedlicher Auseinandersetzungen mit dem Material.» (3)

Stimmen sprechen aus Körpern. Körper sind Masse, Puls, das, was sich unter Zeitdruck verformt. Im Horizont «geistig-körperlicher Gespanntheit» (4) erleiden und bewirken sie gleichermassen; als eine raumgreifende Gewissheit körperlicher Handlungen, die Skrzypczaks Kompositionen nie fehlt. Die räumliche Verteilung abstrakter Akkord- und Klangkörper im dritten Streichquartett (1993) oder die für das Hören verblüffend einsichtige «Raumgestaltung» in Daphnes Lied für Klavier (2002) böten in dieser Frage ertragreiche analytische Vertiefungen. Und die Auseinandersetzung mit dem vielstimmigen Körper des Orchesters ist nach Ensemble- und Solowerken einer unter den erklärten Schwerpunkten von Skrzypczaks momentanem Schaffen.

Eine Grossform ist nie vorbestimmt, sondern erwächst aus der Entfaltung musikalischen Materials. Sie ist in dieser Faktur vollkommen determiniert, andererseits aber auch Ergebnis multipler Ebenen von formalen Verunklarungen. Die Offenheit ist nicht nur als klangliche «Öffnung» - eine solche findet sich etwa im Schluss der Toccata sospesa für Flöte und zwei Schlagzeuger (1999) -, sondern ebenso im Rahmen der konsequenten Fragmentarisierung zu verstehen, die die Komponistin in ihrem Werk verfolgt: jedes Stück stellt ein Fragment dar, dessen Abgeschlossenheit im konzentrativen Moment seiner Entstehung - jenem Moment, der das Ganze überblickt, bevor noch Notenpapier und Stift zur Hand genommen werden - in der Aufführung wieder auseinandersprühen soll.

Wie Sinn und Ordnung entstehen, fällt nicht - wie alles, was man aufzählen muss - unter ein allgemeinregierendes oder -regulierendes Gesetz. Mikrotonalität, die formale Funktion der Harmonik: vieles wurde hier nicht einmal angesprochen. Fügen wir wenigstens der Aufzählung einige Figuren und wiederholende Schlaufen hinzu.

«Vier Figuren» und die vierte Figur

Komplexe Linearität, die sich von einer Klangebene abhebt, erfährt in Vier Figuren für Ensemble in drei Gruppen (2001) eine geradezu dreidimensionale Verdeutlichung. Bereits mit den secco -Akkorden des Beginns ist hier ein eigener musikalischer Raum entworfen wie gleichzeitig schon destabilisiert. Er entspricht der instabilen Konstellation jener vier Giacometti-Skulpturen, die 2001 in der Riehener Fondation Beyeler ausgestellt wurden ( Grosser Kopf, Schreitender Mann II, Grosse Frau III, Grosse Frau IV ). Ihre fundamentale räumliche Vereinzelung und erschütternde hohlwangige Materialität bilden nur eine erste Bündelung von Eindrücken, die sich zerfasert, sobald der Betrachter näher tritt. Was sich im Betrachterauge verknüpft und wieder auflöst, führt die Begegnung mit dem Kunstobjekt in einen Prozess der Verinnerlichung, die der metallenen Guss-Skulptur ihrerseits erst Leben zuströmen lässt. Ähnlich dieser Erhitzung und Wiedererkaltung, die die Figur nun zur symbolischen macht, mischt sich Vier Figuren nicht nur formal ein: neben den drei Gruppen innerhalb der 18 Instrumentalisten des Stücks steht die vierte, mitkomponierte Figur des Zuhörers. An ihn stellt die Komponistin die bewusste Forderung, Phänomene erkennen und interpretieren zu können, Phänomene, die den zeitlichen Ablauf der Komposition ebenso strukturieren wie auf den überzeitlichen Charakter dessen verweisen, worin Erkenntnis sich manifestiert. Für Vier Figuren , ja letztlich für ihr gesamtes Werk, umreisst Skrzypczak diesen Anspruch mit dem Begriff der Wachsamkeit. Den Prozess dieser Konturenverdichtung führen die Vier Figuren aber ebenso vor wie sie ihn nicht weniger einfordern. Die Klangräume, die die Akkordblöcke des Anfangs und Schlusses auch im Binnenverlauf des Stückes immer wieder aufreissen, bilden dafür erste Anhaltspunkte. In ihnen entfalten sich nicht nur die mikro-figurativen, permutiv-transponierenden Muster der senza misura- Teile ( siehe Notenbeispiel 1 ), sondern aus ihnen entblättert sich auch schichtweise eine Stimme. Diese verweist noch auf die Langsamkeit, mit der Giacometti an Portraits arbeitete, mit jedem Strich und jedem Blick Schichten der Erfahrung freilegend, die jedem Gesicht eingezeichnet sind. Die Erkundungen jener klanglichen Hinterzimmer, die meist verschlossen bleiben, wie ein Gesicht sich entziehen kann, bilden den Grundriss der Vier Figuren. Crescendierende Zuspitzungen, vereinheitlichte Rhythmisierungsmuster, die aus flimmernden Kleinfiguren hörbar werden, Klänge, die im Hall durchschrittener Räume sich neu sammeln (etwa der lasciare vibrare Horizont Takt 246 ( siehe Notenbeispiel 2), auf dem feinste Klangobjekte zunehmend wieder näher treten), benennen nur einige Schlüsseltechniken, sich für jene Hinterräume Zugang zu verschaffen.

«Miroirs»: Unterwegs zum Wörtlichen

Eher selten rückten bisher Stimme(n) und Texte in den Werken Bettina Skrzypczaks ins Zentrum des Komponierens. Neben dem Liederzyklus Landschaft des Augenblicks (1992), der Chor-Kantate Acaso (1994) sowie den jüngst entstandenen Lettres nach Texten von Guillaume de Machaut, ist vor allem Miroirs für Mezzosopran und Ensemble (2000) in Erinnerung zu rufen. Miroirs verbindet die subjektive Wahrnehmung verschiedener Wirklichkeitsschichten mit einer bis ins Feinste ausformulierten Textdramaturgie. Die Auswahl der Texte - Gedichtzeilen von Jorge Luis Borges, Li Taibo, Bernart de Ventadorn und Satschal Sarmast - erzeugt bereits ein Netz paarweiser Differenzen, aus denen unterschiedliche Epochen und Kulturkontexte sich spiegelnd anblicken. Jenseits formaler Spiele, zu denen das Thema des Spiegels (und dessen akustische Entsprechung des Echos) hinleiten mag, steht jede musikalische und literarische Aussage im Widerschein von Vorangegangenem und Erwartetem:

           

«Ein unaufhörlicher Spiegel, der sich in einem

            Anderen Spiegel erblickt.»

            (Jorge Luis Borges, Fragmente aus El bacedor )

Die unabschliessbare Natur dieses Prozesses verweist auch darauf, wie sich Detailliertes in Übergreifendem wieder findet. So unterschiedlich die vier Miroirs -Teile sich zeigen, sind sie doch reflektierende Fortführungen eines Grundgedankens. Der lyrischen Stimme, die diesen ausspricht, einen Rahmen zu geben, vermag der Ensemble-Part in seiner reduzierten Faktur mit gleichwohl höchster Intensität. Die Vers-Strukturen der Texte erfordern nicht nur eine zeitliche Auslegung und entsprechende Bewertung des Betonungsgefälles, sie erfordern auch deren musikalische Vermittlung. Diese kann in wenigen akzentuierten Impulsen des Schlagzeugs ebenso geschehen wie in phrasenverbindenden Liegeklängen der Streicher. Eingeführt, unterstützt, kontrapunktiert, ja beinahe geformt findet sich die Singstimme jeweils durch die Klarinetten- oder Flötenstimme. Diese Verknüpfung spielt neben der spezifischen Intervall-Charakteristik der Singstimme eine tragende Rolle in der strukturellen Hörerfassung. Szenischen Kulissenwechseln nahezu gleich kommen Klangfarbenveränderungen, die semantische Felder des Textes vorbereiten oder aufnehmen. Beispiele dafür sind etwa die schlagartige Dämpfung, mit der zum Schluss des ersten Teiles eine wattierte Klangumgebung für die Borgesschen «soños» geschaffen wird, oder die kurze kinetische Intervention nach «jenseits aller Worte ...», die den Schluss des letzten Teiles hinausschiebt ( siehe Notenbeispiel 3 ).

Bei aller atmosphärischen Geprägtheit zeigen sich im Ereignisverlauf des Stücks immer auch Stationen dramaturgischer Planung. Die Frage nach zukünftigem Musiktheater-Schaffen lässt sich anschliessen - und sogleich auch beantworten. Tatsächlich bezeichnet Bettina Skrzypczak das Musiktheater als eigenen offenen Arbeitsbereich. Was in den bisherigen Werken chiffriert vorhanden sich zeigt, müsste dafür nach aussen gewendet werden. Für die eingangs erwähnte Beobachtung gesellschaftlicher Aktualität und dezidierte künstlerische Stellungnahme dazu erweitern Szene und Text nur den Spielraum denkbarer Anknüpfungspunkte.

Hält man sich Textauswahl und formalen Aufbau von Acaso (1994) vor Augen, ergeben sich im gleichen Blick Vergleichsmöglichkeiten zu Miroirs . Hier ist nicht nur das für Acaso zentrale «Descartes»-Gedicht von Borges («Vielleicht träume ich, geträumt zu haben») zu nennen, dessen Ineinanderschachtelung mythischer Zeitebenen sich in grösster Nähe zum bacedor -Fragment von Miroirs findet («Wir sind der Fluss, den du anriefst, Heraklit»), sondern auch die für das Chor-Stück so typische stilistische Diskontinuität. (5) Die aus Mallarmés grossem «Würfelgedicht» resultierende Fragmentierung formaler Aussagen zeigt das jüngere Stück nicht in der methodischen Anwendung von Acaso , ganz im Gegensatz zum immer noch offensichtlichen Unwillen, Grossformen zu entwerfen, in denen im nachhinein offen gebliebene Systemstellen zu besetzen sind.

 

«SN 1993 J»: Labor veränderlicher Systeme

Für die Biennale Venedig 1995 komponiert, bündeln sich in SN 1993 J - das Orchesterwerk ist nach der wissenschaftlichen Katalognummer für eine Supernova benannt - in kompakter Weise Fragestellungen, die Skrzypczaks Werk in beständiger Wandlung hintergründig durchziehen. Zur Erkundung unabhängiger und verkoppelter Formprozesse und ihrer Bedingungen lokalen Entstehens und Auflösens schreibt Skrzypczak:

«In meinem Stück versuchte ich solchen Formprozessen gleichsam zuzuschauen. Ich kam mir vor wie wenn ich in einem chemischen Labor sitzen und verschiedene Substanzen mischen würde. Ich wollte ein fiktives Bild von einer solchen Manipulation schaffen, die unendlich viele Varianten zulässt.» (6)

Auch für den Hörer wird damit das Stück zum «offenen Prozess», so Skrzypczak. Offen heisst dabei keineswegs offensichtlich, denn die Richtungen, die strukturelle Bewegungen einschlagen, erfahren immer schon gezielte Störungen. Aus der Partitur wie hörend unmittelbar nachvollziehbar ist jedoch, wie in emotionaler Verdichtung immer wieder Einzelstimmen aus der gleichsam objektivierten Klangmasse des Tuttis hinausschiessen. Diese melodischen Bänder heben aus dem statischen Geflecht der Orchesterklänge geradezu subjektiv-innige Zeitmomente heraus, bevor sie wieder polyphon zurückgebunden werden oder ganz vergehen. Vielleicht in ihnen auch gerade die Störungskerne transportiert, die die statischen Klangfelder jeweils dynamisieren. Innerhalb dieser Transformationen unterliegt jede Systematisierung selbst wieder Veränderungen, SN 1993 J ist insofern im Skrzypczakschen Werk die bisher klarste Realisierung der Idee, musikalisches Material chaotischen Abläufen zu unterwerfen. Das Ziel dieses Ablaufs liegt weniger in der Abbildung physikalischer Muster (Ansätze davon finden sich etwa in gegenläufigen Wellenbewegungen) als in den Effekten summierter Klangüberlagerungen. Max Nyffeler hat im bereits genannten Text erste analytische Punkte skizziert und mit der Nennung der wichtigsten strukturtragenden Elemente begonnen (lineare Partikel, Unschärfewirkungen einer beweglichen Akkordik, wiederkehrende Staccato-Figuren). Dem wäre eine lohnenswerte präzise Analyse im besonderen jener Mechanismen beizufügen, die aus «Intervallzellen» (Bettina Skrzypczak) übergeordnete strukturelle Muster entstehen lassen; eine Arbeit, die sich überdies, wie bei Miroirs empfohlen, ebenso im Spiegel eines zweiten Stückes erhellen liesse, etwa des 2003 entstandenen Phototaxis für Streichorchester, eines zweiten «Lichtstücks», dessen Material ähnlichen Verwandlungsbewegungen unterliegt wie SN 1993 J .

Ob es nun Lichtzellen oder Supernoven sind, die am Anfang «heller, konzentrierender Momente» stehen -, allemal vielleicht das, was bei Valéry so fasslich «la poussée infiniment petite» heisst, «l'allumette...»

(1) Bettina Skrzypczak im Gespräch mit dem Autor.
(2) Bettina Skrzypczak, Die Notwendigkeit ein System zu haben und zugleich keines. Form als Prozess bei den Frühromantikern und bei Iannis Xenakis , in: Dissonanz Nr. 62 (November 1999), S. 16ff. Es scheint mir angebracht festzuhalten, dass Skrzypczak in diesem Text erstens nur äusserst implizit über ihr eigenes Werk spricht und zweitens eher an den künstlerischen Form- und Zeitprozessen frühromantischen und teilweise antiken (im Zusammenhang mit Xenakis) Gedankenguts interessiert ist als an einer schnellen Umsetzung des interdisziplinär-theoretischen Spuks, der unter dem Namen Chaostheorie durchs letzte Jahrzehnt geisterte.
(3) Bettina Skrzypczak im Gespräch mit dem Autor.
(4) Vgl. Max Nyffeler, Das Innen und Aussen der Zeit. Zur Musik der Komponistin Bettina Skrzypczak . Web-Quelle: www.beckmesser.de.
(5) Für kurze erste analytische Ansätze zu Acaso vgl: Roman Brotbeck, Anstelle einer Konzertkritik , in: Dissonanz/Dissonance Nr. 41 (August 1994), S. 27ff.
(6) Zitiert nach: Max Nyffeler: Die Supernova im Kopf. Das Orchesterstück «SN 1993 J» von Bettina Skrzypczak , in: Positionen Nr. 46 (Februar 2001), S. 32ff.



Biografie Bettina Skrzypczak

Geboren am 25.1.1962 in Poznan (Posen), Polen
1981 Klavierdiplom in Bydgoszcz; Beginn des Musikstudiums an der Musikakademie Poznan
1985 Lizenziat in Musiktheorie
1988 Diplom in Komposition bei Andrzej Koszewski
1984-88 Teilnahme an den von der polnischen Sektion der IGNM organisierten Kompositionskursen in Kazimierz, u.a. bei Witold Lutoslawski, Luigi Nono, Henri Pousseur, Iannis Xenakis
1988 Übersiedlung in die Schweiz, Studien in Basel bei Thomas Kessler (elektronische Musik), Rudolf Kelterborn (Komposition) und in Fribourg (Musikwissenschaft bei Jürg Stenzl); begleitende Studien in Basel bei Hans Saner (Kulturphilosophie)
1990 Computermusikkurs bei Klarenz Barlow in Köln
1990-92 Mitwirkung in einer Gruppe für freie Improvisation in Basel (mit Walter Fähndrich)
1992 Mitglied der Planungsgruppe und Referentin bei Begegnung Polen-Schweiz in Wroclaw
1995 Beginn der Zusammenarbeit mit dem Verlag Ricordi; Dozentin für Musikgeschichte, Theorie und Musikästhetik an der Musikhochschule Luzern, ab 2004 mit Hauptfächern Theorie und Komposition
1996 Künstlerische Beratung beim Festival für Neue Musik Krakau
1996 Wahl in den Stiftungsrat des Künstlerhauses Boswil
1999 Konzeption und Leitung eines Kompositionsseminars in Boswil zum Thema «Chaos und Ordnung in der Musik des 20. Jahrhunderts» (Gastkomponist: Dieter Schnebel)
1999 Promotion an der Musikakademie Krakau
2001 Mitglied der Kompositionsjury des Aargauer Kuratoriums (erneut 2004)
2002 Ernennung zur Professorin an der Musikhochschule Luzern
2003 Workshop und Vortrag zu eigenen Werken an der Musikakademie Warschau; Jurymitglied der Stiftung Nico Kaufmann, Zürich
2004 Vortrag bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt; Gründung eines schweizerischen Studentenensembles für neue Musik mit jährlichen Arbeitsphasen in Boswil
2005 Jurymitglied beim Kompositionswettbewerb des Künstlerhauses Boswil

Bettina Skrzypczak erhielt Kompositionsaufträge u.a. von: Musikbiennale Venedig, Festival Warschauer Herbst, Internationale Balzan-Stiftung, Französisches Kulturministerium, Lucerne Festival, Bayerische Staatsoper München, Radio DRS, Radio Suisse Romande, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Gesellschaft für Kammermusik Basel, Amati Quartett, Amar Quartett, Arion Quintett, Basel Sinfonietta, Basler Madrigalisten, Tage für neue Musik Zürich, Migros-Genossenschaftsbund Zürich. Sie ist Autorin zahlreicher Beiträge über zeitgenössische Musik und Musik aus Polen im Radio und in Fachzeitschriften. Sie lebt in Riehen bei Basel. Preise: 1988 Preis für das Orchesterstück Verba beim Wettbewerb für junge Komponisten der Musikbiennale Zagreb; 1990 Preis für Schlagzeugtrio im Tadeusz-Baird-Wettbewerb, Warschau; 1992 Auszeichnung für das 2. Streichquartett bei der «Tribune internationale des compositeurs», Paris; 1994 Preis für das Orchesterstück Variabile beim 10. Internationalen Wettbewerb für Komponistinnen, Mannheim; 1996 Förderpreis der Stadt Basel; 2001 Werkbeitrag von Kanton und Stadt Luzern; 2004 Kulturpreis der Gemeinde Riehen.

http://www.bettina-skrzypczak.com