Paradis artificiels |
Paradis artificiels
Rolf Urs Ringgers Kunst der Schöntönerei und sein Werk «Manhattan Song Book» (2002)
Von Thomas Meyer
«Terra incognita pour tous ceux à la recherche de la nature des paradis artificiels» singt die Sopranstimme im Duett mit dem Horn. Schliesslich legt sich ein fein tremolierender, schöner Streicherklang darunter. Ein leises Anschwellen, der zweiten Violine noch. Dann versinkt diese Musik im vierfachen Piano: Souvenirs de Capri von 1976/77.
Mit Capri einen Aufsatz über Rolf Urs Ringger beginnen zu lassen, ist nicht besonders originell, ja es mutet fast klischeehaft an. Freilich hat der Komponist selber zum Klischee des fast dandyhaften Bonvivant beigetragen. Spielte er nicht, als Adrian Marthaler sein Orchesterwerk Breaks and Takes fürs Fernsehen visualisierte, einen Delius-ähnlichen, melancho lischen Komponisten an einem Swimming Pool? Verbringt er nicht seit Jahrzehnten regelmässig die Ferien auf der Insel, wo er allenfalls Notizen macht und Tagebuch schreibt? Und versucht er nicht, Italianità in seine Werke einfliessen zu lassen, was ihm der Einfachheit halber auch gern von Kritikern attestiert wird?
Es ist ein Spiel, an dem rur, seit Jahrzehnten selber Musikkritiker rur bei der NZZ, mit einer gewissen Koketterie teilhat («Ich liebe das Kokettieren. Das gibt ja doch auch meiner Produktion das leichte und spielerische Moment. Und es kommt ja beim Publikum auch sehr gut an. Und ich habe Freude daran.»1). Freilich hat es mit diesen Souvenirs de Capri eine besondere Bewandtnis, denn in der Begegnung mit dem Werk formulierte sich einst meine Ablehnung. rur galt mir deshalb als Zürcher Pionier (2) der neuen Schöntöner, und ich verglich ihn mit den jungen Wilden um Rihm, von Bose und Müller-Siemens in Deutschland - eine Kritik, die rur später gelegentlich gern zitiert hat (etwas als Erster zu tun ist in der Moderne immer schmeichelhaft). Dabei handelte es sich um ein multiples Missverständnis, das dennoch manch Wesentliches traf. Denn während Schön klang, Tonalität, selbstzufriedenes Zitieren (3) noch verpönt waren, wurde es hier zelebriert. Man mochte sich an die Musik seines Lehrers Hans Werner Henze erinnern, der über ein Werk seines Schülers schreibt: «Mir gefiel das in Arbeit befindliche Stück, in welchem die von der damaligen Moderne mit Verachtung und Bannflüchen versehenen Intervalle der kleinen und der grossen Terz eine nicht unwichtige Rolle spielten.» (4)
Keine Scheu vor Konventionellem also. Gewiss war die Avantgarde wichtig. Immerhin schrieb rur bei Kurt von Fischer eine Dissertation über Anton Webern; 1956 besuchte er die Darmstädter Ferienkurse, wo er auch bei Adorno studierte. Und doch zeigt sich bald ein Reflex, vielleicht Henzescher Prägung, sich der Avantgarde zunehmend zu verweigern. Nach einem Vierteljahrhundert schaut das anders aus. Schönklang ist - wenn auch oft noch widerstrebend (das ist sein Reiz) - in die Neue Musik integriert. Die Henze-Nähe scheint abgemildert, vielmehr zeigt sich in der Knappheit der Formulierungen seltsamerweise ein Nach wirken des Webernschen Vorbilds. Und wichtiger als die hochdramatische Musik der Spätromantik, die rur gewiss anregte, war ein impressionistischer Gestus: Verschiedenes aufzunehmen und in einen scheinbar schlüssigen, innerlich aber diskontinuierlichen Ablauf zu bringen. Die Gegensätze nähern sich an.
CAPRI SEHEN UND STERBEN
Das Klischee Capri: Dieser Ort des Wohlbehagens spiegelt sich gewiss auch in der Musik und im Text (seit den Souvenirs verfasst rur seine Texte stets selber). Gleichzeitig erscheint die Insel vollgestopft von Bildungszierrat und -zitat, wie es rur zuweilen aufgreift. Wer war nicht alles dort? Ibsen, Shelley, Respighi, Debussy, Benjamin, D.H. Lawrence, Gorki, Wilde, die Werfels etc. Das muss den 21-jährigen damals fasziniert haben, als er den ersten längeren Ausbruch von zuhause wagte. Er habe sich in Carpi sein «Paradis artificiel» geschaffen resp. es dort gefunden. rur: «Es ist die stets wieder sich erfüllende Sehnsucht nach dem anderen: Capri als Chiffre, Metapher, als bildgewordener Traum - persönlich, atmosphärisch, inspirationsmässig, kompositorisch, auch journalistisch. Da ist Heimat: Erde, die mich trägt, nährt, weiterführt. Der Ort, wo ich durchaus auch zur äusseren Ruhe kommen möchte.» (5)
Später hat er ähnlich faszinierend ruinöse Landschaften in urbaner Umgebung gefunden: In Neapel, das er in Dirge (1985), in Rom, das er in Tombeau à la mauve novembrique (1978) und in Aria amorosa (1997) besingt. Alltägliches und Historisches mischt sich da - durchaus mit kritischem Blick, wenn in der Aria einmal auf die faschistische Vergangenheit angespielt wird. Ein schillerndes Bild ergibt sich, wie rur es in Italien immer wieder erlebt: «Das Leben ist für viele Leute schwierig, aber im grossen Ganzen kann man es sich doch sehr erträglich, sehr freudvoll, ja fast spielerisch einrichten.»
Das Gegenbild dazu ist die Gegenwart Zürichs, wo rur geboren wurde und wo er seither lebt und wirkt. Mit dieser Stadt setzt er sich schreibend/komponierend immer wieder auseinander, etwa in den Chari-Vari-Etudes (1978-80) oder in Vermischtes (1992). Diese Kammersprechchorstücke basieren teilweise auf Zeitungsannoncen oder Redensarten. Es ist nicht der stärkste Teil seines Oeuvres, vielleicht weil hier notgedrungen der mangelnden Klangvielfalt wegen das Rhythmische in den Vordergrund rückt, das in der schwebenden, oft auch sehr frei notierten Musik von rur eben gern zurücktritt. Die Stücke erinnern zuweilen immer an Schüler theater, in ihrer (durchaus gewollten) Banalität, ihrer Unverstelltheit auch. Immerhin präsentiert sich rur hier auch ganz selbstverständlich als lokaler Komponist: er ist in dieser Zürcher Musikszene durchaus ein Original, jedenfalls ziemlich unverwechselbar. «Ich fühle mich locker integriert, als Randgänger (auch der bürgerlichen Gesellschaft), aber nicht als Aussenseiter.»
So hat er seinen Platz gefunden. Er habe die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt kennen gelernt, es sei ihm immer gut gegangen. Die Bilanz seines Lebens fällt positiv aus. «Es ist ein Vertrauen in diese Welt, die halt mal so ist. Und mit der muss ich mich arrangieren. So schlecht bin ich in dieser Welt, in dieser Gesellschaft, in dieser Zürcher Gesellschaft ja gar nicht weggekommen», sagt er, und: «Ich habe Grund dankbar zu sein. Katastrophen, Abstürze, enorme Enttäuschungen sind mir im Leben erspart geblieben.» Das drückt sich musikalisch darin aus, dass seine Musik im Grund keine Dramatik kennt und trotz durchaus lauter Momente und seltener heftiger Gefühle keine Schicksalshaftigkeit, kaum Tragik. «Ich bin - in der Musikproduktion, im Schreiben und im Leben - nicht ein Mensch der heftigen Konfrontationen.»
DER NOTIZGÄNGER
Der Randgänger notiert, er nimmt zur Kenntnis. Darin ist rur ein explizit urbaner und ein literarischer Komponist: ein Notizgänger. Deutlich wird das gerade in jüngeren Werken wie dem Manhattan Song Book (2002), das gleichsam Elemente der italienischen und der Zürcher Stücke verbindet, indem es Atmosphärisches und Alltägliches mit Ironie mischt. Auf eine feinsinnige Weise wie selten zuvor.
Das Werk für Sopran, drei Sprechstimmen, Trompete, Klarinette, Kontrabass, Klavier und Perkussion besteht aus elf kurzen Momenten, ja man könnte sagen: skizzierten Szenen, denn sie enthalten durchaus Theatralisches, wenn sich rur dabei auch wiederum des Dramatischen enthält. Spöttisch, ja oft boshaft lässt sich das Ich des Texts etwa über Werbung und das Gerede, über den Musikbetrieb und die Stadt überhaupt aus - und kommt im zehnten Lied plötzlich auf sich selber, den Komponisten zu sprechen: «In Tavern on the Green I had my first idea for Manhattan Song Book». Dann fragt ihn eine nicht sehr freundlich als «crazy witch» bezeichnete Dame, ob er der «famous composer» sei, worauf er kurz antwortet «No, it's my cousin.» Eine hübsche Selbstbespie gelung («Das Moment des Narzisstischen, jetzt wertfrei verstanden, ist doch sehr stark bei mir spürbar.»), doch seltsam: Gerade wo er so deutlich von sich spricht, scheint die Eitelkeit von ihm zu gehen.
Wie beiläufig entwickelt sich das Stück. Nur langsam gräbt sich das Wahrgenommene ein, erhält es Konturen. Jeder der elf kurzen Teile schafft sich eine eigene Atmosphäre, aber er ist jeweils schon vorbei, bevor man die Machart erkannt hat. Deutlich ist die Sparsamkeit im Einsatz der Mittel, auch darin rur an Webern geschult: «Kontrastierende Mittel im Kleinen». Gleichzeitig entsteht aus den einfachen, aber variierten Elementen Einheit. Tremoli auf Akkorden, kurze Akkordschläge, beides oft symmetrisch um ein zen trales d1 aufgebaut, dazu ein paar ruhig pulsierende Tonrepetitionen, Triolenbewegungen, ein permutiertes Drei tonmotiv, das auch mal als Jodel erscheint - das sind einige Grundelemente, die oft wiederkehren. Gongschläge gliedern und geben Haltepunkte an. Wirbel auf der Militärtrommel schaffen untergründige Unruhe, es gibt kurze Ausbrüche.
Diese Leitmotive deutet rur im Gespräch ungewöhnlich biographisch: «Mein Leben ist doch recht geregelt verlaufen. Mit geregelten Ausbrüchen.» Seit 49 Jahren fahre er immer wieder nach Capri, seit 50 Jahren logiere er sogar zweimal im Jahr in St. Moritz im selben Hotel. «Das ist doch irgendwie das Leben eines Grossbürgers, ohne dass ich materiell diesen grossbürgerlichen Hintergrund je gehabt habe», meint er. «Jeweils in gehobenen Kreisen» hätten schon die Silvester theater gespielt, die er in der Mittelstufe verfasste. «Da war ich der Prinz, und noch Jahre danach bestätigte man mir, ‹Ich liebe sie› mit ironischer Distanz markiert zu haben.» (6)
Solche ironische Distanz zeigt sich im Song Book darin, dass der erzählende Sopran gelegentlich von drei Sprechstimmen konterkariert wird. Sie zitieren andererseits auch Sprüche, die die Stimme dann ironisch kommentiert. Die Distanz zeigt sich etwa auch in einigen Spielanweisungen wie «falsche Begeisterung», «desillusioniert» oder «ironisch/schärmerisch», sowie in einem wiederum leicht verfremdeten Zitat aus dem Krämerspiegel von Richard Strauss, den Worten «Haendel's ‹Ariodante›», was bei den übrigen Interpreten ein lautes Gähnen auslöst. Solche Ironisierung verdichtet sich im Lauf des Werks, wird angriffiger, unduldsamer sogar.
Schliesslich aber kippt die Stimmung, öffnet sich ein Blick auf sich selbst. Am stimmungsvollen letzten Tag in New York («a comfortable big chair», «the singing of birds in the trees») wippt die Spitze seines linken Schuhs «over the shadows of a boy». Und diese Begegnung mit der Jugend - «His eyes turn red my face like Chianti wine in the late evening» - wirft den Erzähler auf sich selber zurück. Darauf formuliert sich - wie in anderen jüngeren Werken - eine Lebeneinstellung: Das Notizario caprese (2004) endet mit den Worten «(sehr ruhig, fast ohne Pathos) Se non c'è amore, tutto è sprecato. (sehr nüchtern) Wo keine Liebe ist, ist alles vergeblich. Ein Grabspruch in Capri; ungefähr 2020.» Und entsprechend bleibt in New York am Schluss - das ist ein Rest Adornoscher Prägung - das Gefühl, kein richtiges Leben im eh schon falschen zu leben. «Stop liking, start living» heisst es da zum Schluss, und «(sehr sachlich)»: «That's it!» Wie sagte er doch auch im Gespräch: «Als Nicht-Liebender und als Ungeliebter könnte ich mir mein Leben und meine Produktion sehr schwer vorstellen.»