«BEWEGUNG IST DAS GEGENTEIL VON ERSTARRUNG» Rudolf Kelterborn, ein musicus universalis, wird siebzig Jahre alt(1) von ANTON HAEFELI Die Sentenz aus Blaise Pascals Pensées «Unsere Natur ist in der Bewegung, völlige Ruhe ist der Tod» charakterisiert das Leben, Denken und Arbeiten Rudolf Kelterborns wortwörtlich wie metaphorisch in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wandert er ausserordentlich gerne, ja Wandern ist ihm neben der Beschäftigung mit Literatur und Bildender Kunst die liebste Freizeitbeschäftigung. Stets hat er sich dafür zwei, drei Wochen im Jahr freigehalten; die Gipfel der Schweizer Alpen, die er vor Jahrzehnten noch als Bergsteiger bezwungen hat, bewundert er mittlerweile aus der sicheren Distanz seiner geliebten Jurahöhen. Im Gehen lässt es sich trefflich sinnieren, entwerfen, nachdenken, träumen, vergessen: «Ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an und entlaufe so jeder Krankheit; ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde», schrieb Sören Kierkegaard in einem Brief an Jette (1847). Die lateinische Formel bringt es gar in nur zwei Worten auf den Punkt: «Solvitur ambulando.»(2) Die körperliche Anstrengung fordert Kelterborn zudem heraus und lässt ihn sich selbst spüren; das Erlebnis der Natur ist ihm ferner eine Quelle elementarer Erfahrung und zugleich komplexer Inspiration. Sie zu schützen ist ihm deshalb ein wichtiges, wenn auch nicht dogmatisch verfolgtes Anliegen. (Und so sieht er im Kirschgarten seiner gleichnamigen Oper nach Anton Tschechow [1984] «ein Symbol für die durch menschliche Eingriffe bedrohte Umwelt; seine Erhaltung ist unter Zukunftsperspektiven unabdingbar».(3) Die Bedeutung des Kirschgartens wird indes «nicht mit Argumenten, sondern mit rein musikalischen Mitteln dargestellt: Eine <Kirschgarten-Musik> durchzieht in wechselnder Präsenz und Gewichtung fast die ganze Oper.»(4)) Dass körperliche Bewegung zu geistiger Beweglichkeit führt, mag für nomadisierende Völker im Gegensatz zu sesshaften stimmen, nicht aber generell für heutige Menschen. Kelterborn allerdings war auch beruflich, intellektuell, schöpferisch und menschlich immer unterwegs, in Bewegung; er ging und geht neugierig und offenen Auges durch die Welt, interessiert sich für viele Dinge, schaut sie von verschiedenen Seiten an und nimmt leidenschaftlich und engagiert Anteil an der Welt. Die Verwurzelung im Diesseits teilt er wiederum mit nomadisierenden Frauen und Männern, denn nur sesshafte Völker projizieren die Reisen, die sie in der hiesigen Welt nicht gemacht haben, auf eine Welt nach dem Tode! Und wie jene war Kelterborn meines Wissens nie Besitzer eines festen Wohnsitzes, sondern zog mit seiner Familie als flexibler Mieter von Wirkungsort zu Wirkungsort. Oder wie es das indische Sprichwort sagt: «Das Leben ist eine Brücke. Gehe über sie hinweg, aber baue kein Haus darauf.» «Bewegung» ist für Kelterborn überdies ein wichtiges Stichwort für sein kompositorisches Schaffen: «Bei meiner Arbeit ist für mich nicht in erster Linie wichtig, ob ich etwas grundlegend Neuartiges schaffe. Wichtig ist mir dagegen, dass mein Werk bei Zuschauern und Zuhörern etwas in Bewegung setzt. Mit <Bewegung> meine ich nicht eine nebulose Gefühlsduselei, sondern das Gegenteil von Erstarrung. Auch etwas, das nichts mit der Tagesaktualität zu tun hat, kann aktuell sein, indem es zum Nachdenken anregt, anrührt, beeindruckt, fasziniert, erregt.»(5)
«Varietas delectat»: Stationen eines <bewegten> Lebens Bevor wir uns dem reichen Lebensweg unseres Jubilars zuwenden, mögen vielleicht einige Worte zur Herkunft seiner VorfahrInnen angebracht sein: «Die Kelterborns sind ums Jahr 1832 aus dem Hannoveranischen nach Basel gekommen, wo der Urgrossvater Ludwig Adam (1811-1878) als Kunstmaler und Zeichnungslehrer wirkte und unter anderem noch den Maler Böcklin unterrichtete. Sein Sohn Julius Otto (1857-1915) und sein Enkel Ernst, geboren 1892, der Vater unseres Komponisten, waren Architekten in Basel. Von Mutterseite her stammte der Urgrossvater Johann Jakob Fidler (1821-1913) aus Ihringen im Badischen, wo er als Weinbauer und - händler sein Leben verdiente, seinen Sohn Ludwig Jakob (1867-1942) treffen wir in Basel als Bäckermeister, die Mutter des Komponisten, Anna Elisabeth, kam im Jahr 1903 in Basel zu Welt.»(6) Musik spielte in der Familie des Vaters eine nicht unwichtige Rolle: Es wurde viel musiziert, dessen Schwester Gertrud Lang- Kelterborn wurde Klavierlehrerin, und der Grosscousin Louis Kelterborn (1891- 1933) war als Organist, Dirigent und Komponist in Neuchâtel tätig. Rudolf Kelterborn wurde am 3. September 1931 in Basel geboren. Sein Entschluss, die Musikerlaufbahn einzuschlagen, stand früh fest, und er erhielt deshalb bereits während der Schulzeit in seiner Heimatstadt Klavier-, Dirigier- und Theorieunterricht und machte erste kompositorische Versuche. 1950 erwarb er die Matura im Humanistischen Gymnasium am Münsterplatz, besuchte in Salzburg einen Dirigierkurs bei Igor Markevitch und studierte anschliessend im Konservatorium (heute Musikhochschule) der Musik-Akademie der Stadt Basel Komposition bei Walther Geiser, Musiktheorie bei Gustav Güldenstein und Walter Müller von Kulm, Klavier bei Eduard Henneberger und Dirigieren bei Alexander Krannhals. Auf der Universität Basel hörte er unter anderem musikwissenschaftliche Vorlesungen bei Jacques Handschin. 1952 schloss er mit dem Lehrdiplom für Musiktheorie und dem Kapellmeisterdiplom ab; darauf folgten weitere Studien bei den Komponisten Willy Burkhard in Zürich, Boris Blacher anlässlich eines Meisterkurses in Salzburg und, dank eines Stipendiums des Schweizerischen Tonkünstlervereins (STV), 1955 bei Wolfgang Fortner und Günter Bialas in Detmold. 1956 und 1960 nahm er zudem an den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt teil. 1957 verheiratete er sich mit der Basler Geigerin Erika Salathé, die er während seiner Studienzeit kennengelernt hatte; ihrer Ehe entsprossen eine Tochter und ein Sohn. Die tiefe Beziehung zu dieser starken Frau ist wohl das Fundament, der basso ostinato in der variantenreichen Passacaglia seines Lebens! Seine langjährige Unterrichtstätigkeit begann Kelterborn in der Musik- Akademie Basel als Theorielehrer (1955-1960). 1960-1968 unterrichtete er Musiktheorie, Analyse und Komposition auf der Nordwestdeutschen Musikakademie Detmold (1963 Ernennung zum Professor), 1968-1975 und 1980-1983 im Konservatorium Zürich, wo er 1971-1975 auch dessen Hochschulabteilung vorstand, und 1980-1983, wiederum als Professor, in der Staatlichen Hochschule für Musik Karlsruhe. 1969-1975 war er auch Chefredaktor der Schweizerischen Musikzeitung, und 1974-1980 leitete er die Abteilung Musik des Radios der Deutschen und Rätoromanischen Schweiz. 1983-1994 stand Kelterborn der Musik-Akademie Basel als Direktor vor; zudem unterrichtete er in deren Musikhochschuldepartement 1983- 1996 Komposition und musiktheoretische Fächer. Seit den fünfziger Jahren war er weiter als Dirigent tätig, zuerst von Amateurchören und -orchestern, später bei renommierten Orchestern als Gastdirigent vor allem eigener Werke in aspektenreich konzipierten Konzerten. In seiner Zürcher Zeit arbeitete er in der Programmkommission der Zürcher Tonhalle-Gesellschaft mit, und zusammen mit Heinz Holliger und Jürg Wyttenbach hatte er endlich ab 1986 viele Jahre lang die künstlerische Leitung des unkonventionellen Basler Musik Forums inne. Kelterborn veröffentlichte wichtige analytische Bücher (Zum Beispiel Mozart, Basel 1981; Analyse und Interpretation, Winterthur 1993) und Aufsätze zu musiktheoretischen, kompositorischen und kulturpolitischen Fragen (teilweise nachgedruckt in Musik im Brennpunkt, Basel 1988). Er hielt Gastseminare und - vorlesungen in der Schweiz und der VR China, in den USA, in Deutschland, England und Japan; ausserdem wirkte er regelmässig als Juror bei internationalen Kompositionswettbewerben mit. Immer hat er sich auch kulturpolitisch engagiert, zum Beispiel im Stiftungsrat der Pro Helvetia oder im Vorstand des STV, dessen Ehrenmitglied er seit 1979 ist. 1997 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Freien Akademie der Künste in Mannheim ernannt. Für sein kompositorisches Schaffen erhielt er zahlreiche Preise und Ehrungen, unter anderem 1961 den Kompositionspreis der Stadt Stuttgart, 1962 den Bernhard-Sprengel-Preis (Hannover), 1970 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis (Zürich) sowie 1984 den Komponistenpreis des STV und den Kunstpreis der Stadt Basel, wo er heute mit seiner Gattin schon seit erstaunlich vielen Jahren lebt.
Ein «musicus» Die mittelalterlichen Musiktheoretiker waren sich einig, dass die damalige monastische Gesangspraxis auf eine rationale Grundlage gestellt werden müsse. Aurelianus Reomensis etwa parallelisierte in seinem um 850 geschriebenen Traktat Musica Disciplina den Unterschied zwischen «cantor» und «musicus» mit dem zwischen «corporale artificium» (körperlicher Arbeit) und «ratio» oder dem zwischen Schüler und Lehrer.(7) Ungefähr 150 Jahre später postulierte Guido von Arezzo, dass nur der «musicus» genannt werden dürfe, welcher das theoretische Fundament seines Handwerks kenne. Ein «cantor» hingegen singe oder spiele Musik, ohne zu wissen, was er tue, und bewege sich deshalb auf der Stufe eines Tiers... Es ging bei Aurelianus und Guido indes nicht mehr wie bei Bo‘thius um die strikte Trennung zwischen der mit hohem Sozialprestige versehenen Musikphilosophie/-theorie und der gering angesehenen Musikausübung, sondern um den Unterschied zwischen einer theoretisch untermauerten und einer gewohnheitsmässigen Musikpraxis und, eben, um das Plädoyer für die erstere, die rationale Durchdringung der Praxis. In diesem Sinne darf Rudolf Kelterborn ein wahrer «musicus» genannt werden, denn die «musica» - der Lebenslauf verrät es trotz der dürren Aufzählung - verkörperte sich in ihm stets als ungeteilte Disziplin, und stets verband er in seinen vielen Aktivitäten Theorie und Praxis miteinander, aber auch «ratio» und «[e]motio», «Analyse und Interpretation», Musik und andere Künste, Komponieren und Ausführen, Instrumental- und Vokalmusik, Lehren und Organisieren, Forschen und Umsetzen, Schreiben und Redigieren, Programmieren und Verwalten, berufliches und politisches Engagement. Selbstverständlich reflektierte er auch über die Interdependenzen zwischen den partikulären Positionen, Inhalten und Tätigkeiten(8), suchte den Dialog mit den vorwiegend reproduzierenden Musikerinnen und Musikern, arbeitete als Dirigent mit musikalischen Laien wie mit Profis, unterrichtete Pflicht- wie Hauptfächer und war als Direktor der Musik-Akademie Basel an allen ihm unterstellten Zweigen - Grundkursausbildung und -durchführung, Musikschule, Musikhochschule und Schola Cantorum Basiliensis; also Musikbildung für Laien aller Altersstufen und Berufsausbildung in alter und neuer Musik und ihren Instrumenten - und den darin vertretenen Menschen (Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, Lehrerinnen und Lehrern, Verwaltungspersonal) gleichermassen interessiert, bei deren Veranstaltungen präsent und für sie da. Und was er auch machte, er machte es tatkräftig, überzeugt, genau, zuverlässig, integer und zeigte in allem «die Verlässlichkeit eines stetig geführten Lebens»(9).
Facette 1: Der Musikdenker Beleuchten wir indes die eine oder andere seiner Tätigkeiten etwas genauer, zunächst seine wichtige musiktheoretische und dann, Hand in Hand, musikpädagogische. Kelterborn darf durchaus in eine Reihe von Hector Berlioz über Arnold Schönberg bis Pierre Boulez, also von Komponisten als wichtigen Musikdenkern, Analytikern und Lehrern, gestellt werden. Von Schönberg und Erwin Ratz geprägt, war er einer der ersten in der Schweiz, der die unselige Parzellierung der Musiktheorie in ihre Teilgebiete wie Harmonie-, Formenlehre und Kontrapunkt sowie die ebenso verhängnisvolle Loslösung von Musikwerken aus ihrem historischen und individuellen Kontext überwand und mithalf, quantitative Formenlehre in qualitative, <ganzheitliche> Analyse, die erst zu wirklicher Erkenntnis von Musik führt, umzugestalten und durch Lehre umzusetzen. Dabei bedeutet musikalische Analyse für ihn «zunächst, das vom Komponisten rein musikalisch Gedachte auf einer anderen, sprachlich-gedanklichen Bewusstseinsebene so weit wie möglich nachzuvollziehen (und gegebenenfalls weiterzuvermitteln). Die Verbalisierung von Einsichten in musikalische Bezüge, Entwicklungen, Proportionen, Abläufe usw. bildet die Voraussetzung für das rationale Verständnis der kompositorischen Prozesse und Zusammenhänge. Für den Komponisten ist diese Verbalisierung bei seiner Arbeit natürlich nicht opportun. Er denkt <nur> musikalisch - aber er denkt: Seine kompositorischen Dispositionen, die von ihm geschaffenen Bezüge [...] werden ihm nicht durch mysteriöse, übermenschliche Kräfte in die Feder diktiert, sondern sie entspringen seinem musikalischen Denken, seiner musikalischen Erfindung. Der Komponist schafft sein Werk bis ins Detail hinein bewusst - nur ist dieses Bewusstsein auf einer anderen als der sprachlich-gedanklichen Ebene angesiedelt.»(10) Kelterborns analytisches und kompositorisches Verständnis stehen also in Wechselbeziehung zueinander und basieren auf einem aufklärerischen Denken in Musik. Seine originären Beiträge zu einer umfassenden Kunst der musikalischen Analyse erwuchsen aus informations- und kommunikationstheoretischen Erkenntnissen und aus der Erfahrung mit neuer Musik. Wenn Kelterborn catoesk hartnäckig in Wort und Schrift betonte, dass «musikalische Analyse niemals nur lesend begriffen werden kann, [sondern] von der stetigen, wiederholten Hörerfahrung getragen werden» muss(11), dann wies er damit auf den früher viel zu wenig beachteten Unterschied zwischen Musik als Struktur und als Form hin. Pointiert ausgedrückt, hat ein Musikwerk Struktur als Ergebnis kompositorischer Prozesse, und es ist Form als musikalisches Resultat, wie es Hörende wahrnehmen. Die Beschreibung der Struktur (die Art, wie eine Komposition <gemacht>, gebaut, notiert ist) muss deshalb von der Beschreibung der Form (die Art, wie sie von wem gehört wird) getrennt werden, auch wenn das Werk natürlich nicht in diese lediglich für die Analyse beschriebenen Pole auseinanderfällt, sondern seine Individualität und Qualität gerade aus der dialektischen Spannung zwischen komponierter Struktur und rezipierter Form bezieht. Für das analytische Vorgehen empfiehlt Kelterborn deshalb mit allem Nachdruck ein deduktives Prinzip (wir werden sehen, dass es auch sein Komponieren bestimmt!): «Jede musikalische Analyse [...] muss unbedingt vom (mehrmaligen) Anhören des Stückes (Satzes) ausgehen, und selbstverständlich sind alle weiteren analytischen Schritte - der Weg führt von der übergeordneten Architektur zur inneren Struktur - hörend nachzuvollziehen und zu überprüfen.»(12) Um die «übergeordnete Architektur» wahrnehmen zu können, erstellte er einen Katalog von «formbildenden Faktoren», den er aus der Erfahrung mit neuer Musik um solche wie Bewegungs- und Satzdichte, Tonraum, Gestik und Klangfarbe beträchtlich erweiterte, wobei solche Faktoren umgekehrt dann auch wiederum in älterer Musik zu entdecken waren. In exemplarischen Arbeiten hat er nachgewiesen, wie grosse Komponisten Konvention und Innovation miteinander verknüpfen - wie zum Beispiel Joseph Haydn oder Wolfgang Amadé Mozart, die ihm übrigens näherstehen als Ludwig van Beethoven, das von ihnen mitbegründete Sonatenprinzip einerseits einhalten, die geschlossen wirkende etablierte Form andererseits aber durch offenere, unkonventionelle Formtypen überlagern und so formale Mehrschichtigkeit - für Kelterborn ein wesentliches Kriterium für kompositorische Qualität - erreichen.
Facette 2: Der Musikpädagoge Kelterborns Ansatz, Struktur und Form voneinander zu trennen und die «übergeordnete Form» als die hörbare zu umschreiben, kommt nicht zuletzt auch interessierten Laien und zudem all jenen entgegen, die neue Musik noch nicht gut kennen. So nützt nicht einmal geschulten Hörenden die Einsicht über die Sonatensatzanlage und die Doppelkanonkünste im ersten Satz von Anton Weberns Symphonie op. 21 sehr viel, weil das im Hörerlebnis schwer nachzuvollziehen ist. Dagegen ermuntert in einem durchaus als emanzipatorisch zu verstehenden Akt Kelterborn die Hörwilligen zu Unbefangenheit, zu einem zuerst gleichsam «statistischen Wahrnehmen»: In einer unbekannten Musik soll möglichst alles auditiv Hervorstechende, sollen alle formbildenden Faktoren in mehreren «Hörschritten» aufgenommen und in einem Hörprotokoll festgehalten werden. Das ist auch denen möglich, die eine Strukturanalyse nicht leisten könnten, und zugleich führt nur dieses Vorgehen zum richtigen Erkennen einer «übergeordneten Form», die - um bei Webern zu bleiben - unkonventionell ist und keinesfalls dem Sonatenprinzip folgt! Es war ein Glücksfall für mich, seinerzeit als Student Kelterborns (Hauptfach Musiktheorie) in Zürich 1968-1972 mit seinem modernen Analyseansatz sozusagen in statu nascendi konfrontiert zu werden. Was er später in Aufsätzen und Büchern einer grösseren Öffentlichkeit zugänglich machte, durften wir damals in der Schweiz wohl als erste erfahren und vielleicht gar mit dem einen oder andern Mosaiksteinchen eigener Erkenntnis bereichern, denn er wünschte aktive Mitwirkung am Unterrichtsgeschehen, ja provozierte sie manchmal drastisch. Die theoretische Erörterung beschränkte sich aufs Notwendige, vor allem auf den Kontext einer zu untersuchenden Komposition; der Hauptakzent lag auf dieser. Was oben als Kelterborns Forderungen beschrieben wurde (hören, nicht nur lesen; Hörform und Struktur unterscheiden; alle Parameter eines Werks einbeziehen; ganzheitliche Vorgehensweise), war schon Grundlage seines Unterrichts: für einmal ein Wegweiser, um Max Schelers Aussage ins Gegenteil zu verkehren, der nicht nur die Richtung zeigt, sondern ihr auch folgt! Kelterborn, der als Komponist sein Metier souverän beherrscht, lehrte uns Analyse denn auch als lernbares Handwerk. Dabei erfüllte er Grundanforderungen moderner Pädagogik, ohne sie, damals noch wenig bekannt, vielleicht explizit zu kennen, und ermöglichte prozesshaftes, handlungsorientiertes, exemplarisches, vernetztes und zur Selbstkompetenz führendes Lernen. Nicht alle meine Mitstudierenden (im Pflichtfachbereich) haben das so gesehen und erlebt, und es darf in einem ehrlichen Porträt nicht verschwiegen werden, dass Kelterborn am Anfang seiner Lehrtätigkeit bei Klassen und Gruppen manchmal das vermissen liess, was ich musikpädagogischen Eros nenne. Wer nur am instrumentalen Hauptfach interessiert und/oder geistig unbeweglich war und seinen (= Aureliani und Guidos!) Ansprüchen nicht genügte, machte schnell die Grenzen seiner nicht übermässig vorhandenen Geduld deutlich. Erschwerend kam dazu, dass die bedächtigen Nord- und Nordostschweizerinnen und -schweizer voreilig als persönliche Blossstellung empfanden, was eigentlich nur überpersonaler quicklebendiger Basler Witz war. Im Hauptfachunterricht (Harmonielehre, Kontrapunkt, Analyse), mit ihm allein, erlebte ich ihn hingegen nie anders denn als einfühlsamen, begeisterungsfähigen, von meinen Versuchen und Lösungen ausgehenden, undogmatisch-offenen Mentor. Zu diesem günstigen Lernklima kam seine für damalige Begriffe geradezu revolutionäre Erweiterung der Musiktheorielehrerausbildung um eine eigentliche Fachdidaktik- und Fachmethodikveranstaltung, um Lehrproben, Hospitia und begleitete Stellvertretungen. Auch vom ungleich diffizileren Kompositionsunterricht (in die Werkstatt Kelterborns gingen etwa Peter Wettstein, Bettina Skrzypczak, Christoph Neidhöfer, Lukas Langlotz und Andrea Scartazzini) gilt Ähnliches: verständnisvolle und behutsame Begleitung und Entwicklung der individuellen Musiksprache anstatt Subordination unter die ästhetischen Maximen des Lehrers, mehr Dialog als Unterricht oder: im Lehren lernen und im Lernen lehren! Kelterborn kam nicht zuletzt durch die eigenen positiven Erfahrungen als Lernender zu dieser Haltung: «Ganz wichtig waren für mich meine Lehrerinnen und Lehrer - nicht nur im Fach Musik oder in der beruflichen Ausbildung (meine Lehrer für Deutsch und Mathematik am Gymnasium haben mir zum Beispiel unendlich viel auf meinen Lebensweg mitgegeben). Ihnen allen verdanke ich sehr viel. Bei den Kompositionslehrern war es eigentlich immer so, dass ich selber nie so komponieren wollte wie der jeweilige Lehrer - und der jeweilige Lehrer hatte seinerseits nie den Wunsch, dass ich so komponieren sollte wie er selber; diese Erfahrung hat meine eigene Tätigkeit als Kompositionslehrer massgeblich mitbestimmt. Und in diesem Sinne haben mir auch meine Kompositionsstudierenden sehr viel gegeben.»(13)
Facette 3: Der Musikvermittler Ebenso didaktisch-pädagogische, ja <volksbildnerische> Aspekte hatte die Arbeit Kelterborns als Musikvermittler und Programmgestalter in Vorträgen, Rundfunk und Konzerten. Über seine erste Sendung für Radio DRS II 1972 schrieb Urs Frauchiger: «Da kam einer unserer bedeutenden Komponisten und konnte Deutsch, war imstande, einerseits komplexe Sachverhalte präzis und allgemein verständlich zu formulieren und andererseits Stimmungen, Gefühle, Hintergründiges zu evozieren, ohne in Sentimentalität zu verfallen. Noch mehr staunten wir aber, mit welcher unauffälligen, aber fast taschenspielerartigen Geschicklichkeit er die radiophonen Mittel einzusetzen wusste, wie er es zustande brachte, seine Werke in den historischen Kontext zu stellen und dadurch gleichzeitig dem Hörer, ohne dass dieser es merkte, das nötige Wissen beizubringen.»(14) Für seine Sendereihe «Musik bewusst hören - Musik verstehen» im gleichen Jahr bekam Kelterborn bereits den Zürcher Radiopreis, und ein Jahr später war er Hauptabteilungsleiter Musik bei Radio DRS! Jetzt konnte er «seine unversiegbare musikalische Neugierde, sein Talent zur Übersicht und damit zum Vergleichen, Vernetzen, Assoziieren und Kontrastieren pflegen und zur Meisterschaft entwickeln».(15) Er entwarf Programme mit vielen Gegenüberstellungen und offenen und versteckten Wechselbeziehungen, zum Beispiel am 24. Januar 1978 unter dem Titel «Alte und neue Vokalmusik» einen «Abend doppelter Konfrontation» mit originaler byzantischer Kirchenmusik und einer von dieser Musik beeinflussten Komposition des Griechen Dimitris Terzakis im ersten und mit Robert Schumanns Frauenliebe und -leben sowie einer Komposition des Schweizers Rainer Boesch im zweiten Teil. «Doppelte Konfrontation» ist dabei tief gestapelt, denn es kommen viele weitere dazu wie östlich vs. westlich, geistlich vs. weltlich, kollektiv entstandene Musik vs. von einem Autor verantwortete, solistische vs. chorische Besetzung, unbegleitete vs. begleitete Singstimme(n) und so fort. Das gleiche Prinzip wandte Kelterborn auch in Programmen an, die er für das Basler Musik Forum oder für Konzerte unter seiner Leitung entwarf. Eine wunderbar axialsymmetrisch <komponierte> Werkfolge für ersteres mit einem Haydnwerk als Mittelachse erschliesst sich unmittelbar aus Abb. 1. Für letzteres diene ein Programm, das er vor zehn Jahren in der Tonhalle Zürich realisierte, wo im ersten Teil auf seine Musica luminosa per orchestra Mozarts Linzer- Sinfonie folgte und nach der Pause auf das Vorspiel zu Richard Wagners Lohengrin seine Gesänge der Liebe. Im Heft zur Veranstaltung erläuterte er die zugrundeliegenden Ideen: «Jede der beiden Programmhälften wird durch eine kurze <Lichtmusik> eröffnet. Mit meiner Musica luminosa und Mozarts Sinfonie C-Dur KV 425 bringt der erste Teil Werke, für die es keine aussermusikalischen Programme gibt. Der zweite Teil hingegen enthält mit Wagners Vorspiel [...] und meinen Gesängen der Liebe Kompositionen, deren aussermusikalische Elemente durch Bezüge zur Oper bzw. zu den Texten aus dem Hohenlied Salomonis offensichtlich sind. Mozarts Sinfonie eröffnet bei allem C-Dur-Glanz immer wieder (mit Ausnahme des Menuetts) Tiefenperspektiven in dunkle und dramatische Regionen. In den Gesängen der Liebe verschmelzen Dunkles, Schattenhaftes und Lichtes, Helles oft zu einem <Chiaroscuro>.»(16)
«Struktur und Ausdruck»: der Komponist Kelterborn Dass Kelterborn bei all seinen Aktivitäten überhaupt Zeit und Ruhe zum Komponieren fand, scheint fast unmöglich. Um so erstaunlicher also, dass seine in in der Biographie dokumentierte Universalität und Produktivität ihr Pendant in einem umfangreichen und breit gefächerten Schaffen findet, das bald 150 Werke aller musikalischen Gattungen umfasst. Beim IGNM-Fest 1956 in Stockholm erstmals international beachtet, gehört er zweifellos seit vielen Jahren zu den bedeutendsten und am meisten aufgeführten Schweizer Komponisten der Gegenwart. Seine Entwicklung verlief von den ersten bis zu den jüngsten Werken kontinuierlich. Er setzte sich mit Neoklassik, Zweiter Wiener Schule, serieller Musik und Aleatorik auseinander, empfing Anregungen von der Musik Strawinskys, Béla Bartóks, Weberns, Alban Bergs, György Ligetis, Boulez' und anderer, bewahrte sich aber dennoch immer eine unabhängige Haltung und fand eine unverwechselbare Sprache, die ungezwungen aus verschiedenen Techniken und Materialien schöpft und zwischen Konstanz und Innovation pendelt. Sowohl bei fremden wie eigenen Werken plädiert er dafür, nicht als erstes zu fragen, was eine Komposition bedeute, sondern sie als klangliches Substrat, als sie selbst zu rezipieren und andere Aspekte aus musikimmanenten Kriterien abzuleiten. «Es ist mir [...] kaum verständlich, warum [...] hartnäckig danach gefragt wird, was denn eigentlich mit einem Musikstück gemeint sei. [...] Das Heranziehen aussermusikalischer Hintergründe erscheint mir oft wie eine Flucht vor den hohen Anforderungen, welche komplexe Musik [uns allen] stellt.»(17) Er spricht deshalb nicht gerne über seine Musik, und seine Erläuterungen zu eigenen Werken fallen wohltuend kurz und strikt auf die musikalische Faktur beschränkt aus; programmatisch-semantische Angaben wären ihm ein Greuel: Was uns ein Komponist sagen will, sagt er mit den Mitteln der Musiksprache; hätte er es mit denen der Wortsprache ausdrücken wollen, würde er nicht komponieren, sondern dichten! Zudem verbauen «Kommentare und Erklärungen zu eigener Musik beim Zuhörer oft mehr, als [sie] erhellen», und blockieren seine Phantasie und Vorstellungskraft; «viel wichtiger sind [indes] Unvorgenommenheit und Neugier beim Publikum» (1990). Aus dieser vordergründiger Hermeneutik abholden Haltung auf eine abstrakt- sachliche Musik, auf nur «tönend bewegte Formen» zu schliessen wäre allerdings grundfalsch: «Ich verstehe Musik als Ausdruckskunst. [...] Bei [meiner] eigenen Arbeit steht das Bemühen um grösstmögliche Ausdruckskraft immer im Vordergrund, und dieses Bemühen ist noch bei den handwerklich-kompositorischen Vorgängen absolut bestimmend.»(18) Kompositorische Technik heisse überhaupt, «ein dichtes Netz von Bezügen zu schaffen, offensichtlichen und verborgenen»(19), und so vermitteln denn Kelterborns vielschichtige Kompositionen auf der Grundlage von glänzend beherrschtem Handwerk, reicher Phantasie und untrüglichem Sinn für Formen, Klangfarben und Gestisches zwischen Struktur und Ausdruck, Intellekt und Emotion, <absoluter> Musik und Drama. Weitere Konstanten in seiner Musik sind die stringenten, aber undogmatischen Materialordnungen, die schon angesprochene formale Mehrschichtigkeit und, neben dem grundsätzlich «antithetischen» Charakter(20), eine vielfach thematisierte Hell-Dunkel-Dualität. Diese zeigt sich zum Beispiel in der oben zitierten Beschreibung seiner Gesänge der Liebe oder besonders eindrücklich in einem Kelterbornschen chef d'uvre, dem Ensemble- Buch I für Bariton und Instrumente nach Gedichten von Erika Burkart (1990), wo er zwei Nacht- und gleich drei Lichtmusiken unverwechselbar zu gestalten vermag. Hier ist auch zu lernen, wie spannungsvoll Stille auskomponiert werden kann. Neben Kammer- (etwa Reaktionen, 1974; Consort-Music, 1976; fünf Streichquartette, 1954/1989) und Orchestermusik (zum Beispiel Changements, 1973; Musica luminosa, 1984; vier Symphonien, 1967/1986) ist die Vokalmusik für den literarisch kundigen Kelterborn ein weiterer wesentlicher Strang seines Komponierens, darunter Fünf Madrigale für grosses Orchester und zwei Solostimmen (Charles F. Ramuz, William Shakespeare, Louise Labé und andere, 1968), Gesänge zur Nacht für Sopran und Kammerorchester (Ingeborg Bachmann, 1978), Gesänge der Liebe für Bassbariton und Orchester (1988), sechs Opern, darunter Ein Engel kommt nach Babylon (nach Friedrich Dürrenmatt, 1976) und Der Kirschgarten (1981). Zur Gewichtung der Gattungen in seinem Schaffen sagte er: «Ich habe eigentlich nicht mehr Vokal- als Instrumentalmusik geschrieben, im Gegenteil. Für mich ist der Text oft der Kommentar zu meiner Musik, und es kam vor, dass ich eine Musik schon entwickelt hatte und dazu noch einen Text suchte. Ich finde die wechselnde Distanz oder Integration von Text und Musik gerade das Spannende.»(21) Endlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass sein grosses Interesse für alte Musik sich in Werken für Renaissanceinstrumente niederschlug (etwa «Schlag an mit deiner Sichel», 1981): «Mich interessiert das vom Klanglichen her, und ich habe mich während meiner Zeit an der Musik-Akademie dafür eingesetzt, dass die Schola-Leute auch moderne Musik spielen.»(22) Die Mühelosigkeit, mit der Kelterborn für jede denk- und undenkbare Instrumentenkombination (in den letzten Jahren etwa die Vier Fantasiestücke für Violine und Marimbaphon, 1992, oder die Monodie III für Violoncello und Harfe, 1996) zu schreiben und jeden Auftrag zu erfüllen scheint, und die Brillanz seines Handwerks forderten auch Kritik heraus, hier durchaus bedenkenswert zum Ensemble-Buch I: «Die Musik ist beherrscht im umfassenden Sinne, dem des Handwerks, über das Kelterborn souverän verfügt, und dem der Beherrschung der Geister. Es ist das Paradox einer Musik, die das Atmosphärische ordnet. Konstruktion ist bei Kelterborn wesentlich Konstruktion von Stimmungen, Gesten.»(23) Allerdings zeigen die Werke der letzten Jahre zunehmend rauhere, undomestiziertere Seiten, einerseits durch die «Behandlung des Instrumentariums im Sinne eines Ensemble-Buches» (1997), in dem auch Solo-, Duett- und Trio- Partien vorkommen (etwa im Streichtrio, 1995/96, oder in den Fantasien, Inventionen und Gesängen für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violoncello, 1996), andererseits durch das immer wichtiger werdende Ausloten von Geräuschen und von hoketusartiger Rhythmik. Beim ersten Hören scheinen diese Kompositionen geradezu zergliedert und additiv aneinandergereiht zu sein; die einzelnen Teile werden aber durch strukturelle Verfahren subkutan vielfältig miteinander vernetzt. Das Streichtrio, vielleicht eines der besten Werke Kelterborns, etwa besteht aus elf kurzen Sätzen, die indes eine zweiteilige zyklische Grossform bilden. Beide Teile (Teil I mit sechs, Teil II mit fünf Sätzen) beginnen mit einem «Hoketus», jener seit der ars nova des 14. Jahrhunderts «bekannten Struktur also, worin die drei Stimmen zerschnitten, gleichsam durchlöchert sind und dennoch lückenlos ergänzend ineinandergreifen. Bei beiden Anfängen sind die Töne, von denen ausgegangen wird, identisch, einmal jedoch wird die Textur durch metrisch-rhythmische Verschiebungen verwischt und verdickt, ein andermal dünnt sie sich aus; die beiden Aspekte des Hoketus, das Lückenhafte und das Lückenlose, erscheinen so in Musik gesetzt.»(24) Gleicher Beginn, aber unterschiedliche Entwicklungen, Dramaturgien, Prozesse: bezeichnend für die zunehmende Verrätselung in den Werken Kelterborns der letzten Jahre. Das gilt auch für Kelterborns nächstes Meisterwerk «Namenlos. Sechs Kompositionen für grosses Ensemble und elektronische Klänge» (entstanden 1995/96, uraufgeführt 1997), das die eben festgehaltenen Befunde bestätigt (Behandlung sogar des Orchesters als «Ensemble-Buch»; Vermittlung von Einheit und Vielfalt, von Tutti, allen möglichen Gruppierungen und Soli, von Statik und Dynamik, Ausbruch und Stille; Mannigfaltigkeit von Gesten, Klängen und Geräuschen; reiche Gliederungen, die durch Strukturierung, etwa konzentrierte motivische Arbeit, zusammengebunden werden) und gleichzeitig eine neue Facette (nach einem ersten Versuch in Espansioni) in seinem Schaffen aufmacht: den Einbezug von Elektronik - getreu seines Credos, «sich [selbst] immer wieder neue Fenster [zu] öffnen»(25). Diese war und ist ihm dabei nicht das Steril- Technische per se, sondern es ging ihm einerseits um das Erkunden einer neuen klanglichen Dimension und andererseits um das dialektische Aufspüren des Einen im Anderen und umgekehrt, ob in harschen Gegenüberstellungen oder feinen Überlagerungen, und manchmal geradezu um die Vertauschung des hergebrachten Bildes: «Ich habe sogar das Gefühl, dass [...] die Interventionen des Instrumentariums das Aggressive sind und der elektronische Klang eher sinnlich und farbig wirkt.»(26) Am spannendsten wird es dort, wo live und akustisch produzierte Klänge einerseits und durch Lautsprecher zugespielte elektronisch erzeugte andererseits sich so durchmischen, dass sie nicht mehr eindeutig auseinander gehalten werden können.
Zum Schaffensprozess Abb. 2, eine der ersten Skizzen zu Namenlos, zeigt den Formplan des Werks, der in vielfacher Hinsicht für den kompositorischen Schaffensprozess Kelterborns typisch ist. Dieser bezeichnet nämlich als «eine[n] der spannendsten Aspekte des Komponierens [...] das Konzipieren der Form, des übergeordneten Ablaufs eines Stücks oder eines Abschnitts. Er ist in unserer Zeit besonders bedeutsam, weil uns keine verbindlichen Formmodelle zur Verfügung stehen.»(27) So stehen offenbar eine formale Synopse und ihre quantifizierende Unterteilung am Anfang von Kelterborns musikalischer Vision eines neuen Werks. Damit steht er insgeheim in der scholastisch-deduktiven Tradition des «forma definit materiam», der etwa Johann Sebastian Bach noch explizit verpflichtet war. Jedenfalls kommt es nicht von ungefähr, dass sich die frühesten Aufzeichnungen Kelterborns oft mit der Architektur eines neuen Werks beschäftigen. Allerdings kann er sich «erst an den Schreibtisch [setzen], wenn ein Stück weitgehend im Kopf fertig ist. Bis es soweit ist, dauert es [...] meistens recht lange.»(28) Seine formal-abstrakten Konzeptionen und sich bald entwickelnden konkreten musikalischen Ideen hält er weniger in Noten als in verbalen Verlaufsbeschreibungen fest, und so deutet auch Abb. 2 als frühe Wortpartitur sehr klar auf seine bereits weit gediehenen formalen, zeitlichen, klanglichen, gestischen und dramatischen Vorstellungen hin. Formal spielen alle drei Symmetrien eine Rolle und generieren ein mehrdimensionales Werk. Am auffälligsten ist dabei die Axialsymmetrie, die im Grossen vor allem durch die elektronischen Einspielungen erreicht wird. In den zwei Teilen von je drei Abschnitten haben die beiden mittleren «Kompositionen» keine elektronischen Einspielungen, die Aussenteile Nr. I und VI hingegen je eine und die um die imaginäre Mittelachse angeordneten Nr. III und IV je drei (die in Abb. 2 eingezeichneten Symbole E1 - E4 für die elektronischen Blöcke bedeuten noch nicht die endgültige Nomenklatur). Oder schematisch dargestellt:
«Komposirionen
|
I
|
II
|
III
|
IV
|
V
|
VI
|
«Elektron.
Einspielungen»
|
E1
|
|
E2/E3/E4
|
E5/E6/E7
|
|
E8
|
Andere Bauprinzipien und Symmetrien können hier des Platzes wegen nicht erläutert werden; die daraus resultierende architektonische Ambiguität des Werks verhindert indes jede Abrundung und Einfachheit. Dem Eindruck geglätteter Form opponiert auch die ausserordentlich reiche Ausprägung der «materia», der Details, von denen einige bewusst asymmetrisch gesetzt sind.
Kein Schluss Namenlos ist auf jeder Ebene ein vielschichtiges, verrätseltes Werk. Nach einem wilden Beginn «de profundis» (wie die Fantasien) und der zunehmenden Aufsplitterung der anfänglichen Kompaktheit erzählt es von musikalischen Aggregatzuständen, von Gesten, Prozessen, Bewegungen und Wegen, die «in jeder der sechs Kompositionen sowie im Gesamtzyklus [...] oft unvorherhörbare Richtungen einschlagen und zu unerwarteten Zielen [...] führen können»(29) - ein «musikalisches Nachdenken in sechs Ansätzen über individuelle Expressivität, deren Verschwinden im Stimmengemenge und in der Klangmasse (inkl. elektronischer Ergänzung)»(30). Naturlaut und Schrei, Bedrohung und Idyll wechseln miteinander ab, denn «der <Inhalt> meiner Musik wird bestimmt durch die oft schier unerträgliche Spannung zwischen den Schönheiten dieser Welt, den unerhörten Möglichkeiten des Lebens einerseits und den Ängsten, Schrecken und Nöten unserer Zeit andrerseits.»(31) Wenn in Nr. VI die von der Technik erzeugten Geräusche in den <natürlichen> Klang des Ensembles transformiert werden und nach dem Ende der eigentlichen Komposition erstmals die Stimme einsetzt, wird wohl weniger ein beruhigender Abgesang evoziert, wie ein Uraufführungskritiker es hörte - das wäre dann doch allzu banal und eine Depravation der bislang waltenden Komplexität -, als vielmehr eine weitere klangliche Facette angeschlagen und ein Neuanfang initiiert, der das Werk über die reale Aufführungsdauer hinaus erweitert und für sie eine weitere dialektische Beziehung, die zwischen Abgeschlossenheit und Offenheit, gewinnt. Das frühere dualistische, antithetische Komponieren wird also mehr und mehr durch ein subtileres dialektisches ersetzt.(32) Kelterborn verrät in frühen Notaten zu Namenlos mehr von sich, als seine Scheu vor Kommentaren es erwarten liesse. Das kann auch vom Gedicht gesagt werden, das wie so oft bei Kelterborn nicht von Anfang an feststand und nun die Musik charakterisiert (und nicht umgekehrt diese das Gedicht): Scheinbar im Gegensatz zum Text singt der Bariton sein «Vegghio, penso, ardo...»(33) sehr leise, «molto tranquillo», und wie die Natur scheint das lyrische Ich nichts weniger als wach zu sein. Die dialektische Kompositionsweise Kelterborns indes täuscht; die expressive Höhe der Stimme und der letzte verklingende Ton des angestrichenen, wahrhaft bebenden Vibraphons (mit kleiner Terz zum vorletzten Ton wie am Ende des ersten Grossteils!) wirken viel intensiver, als es eine redundante Vertonung vermöchte, und so werden die drei Worte zu den letzten sieben Tönen zu einem zwar verschlüsselten, aber umfassenden Selbstporträt des Komponisten! In Umkehrung der Rollen möchte ich ihm, Buddhas letzte Worte an seine Schüler zitierend, für seinen künftigen Lebens- und Schaffensweg zurufen: «Geh[t] weiter!»
(1) Ich widme diesen Aufsatz, mit meinen besten Wünschen, Rudolf und Erika Kelterborn-Salathé. (2) «[Das Problem] wird im Gehen gelöst.» (3) R. K.: «Anmerkungen zur Oper Der Kirschgarten», in: ders.: Musik im Brennpunkt. Positionen, Analysen, Kommentare, Basel 1988, S. 168170, hier S. 168f. (4) R. K.: «Text und Musik Libretto», in: ebd., S. 147160, hier S. 155. (5) Zit. nach Wolf-Eberhard von Lewinski: «<Eindeutig und kunstvoll>. Der Komponist Rudolf Kelterborn», in: Hans Jörg Jans (Hg.): Komponisten des 20. Jahrhunderts in der Paul Sacher Stiftung, Basel 1986, S. 400406, hier S. 401 (Hervorhebung AH). (6) Dino Larese: Rudolf Kelterborn. Eine Lebensskizze, Amriswil 1970, S. 8f. (7) «Tantum inter musicum distat et cantorem, quantum inter [É] corporale artificium et rationem. [É] Etenim in tantum distare videntur inter se musicus et cantor quantum magister et discipulus.» (Musica Disciplina, Cap. VII: «Quid sit inter musicum et cantorem», hg. v. Lawrence Gushee, Rom 1975, S. 77f.) (8) Vgl. etwa seine Aufsätze «Musik und Intellekt» (S. 920), «Die Bedeutung historischer Musik für den zeitgenössischen Komponisten» (2131) und «Kompositorische Struktur im Dienste des musikalischen Ausdrucks» (9499), alle wieder abgedruckt in: R. K.: Musik im Brennpunkt, a. a. O. (Anm. 3), oder sein Buch Analyse und Interpretation (= Musikreflexionen IV, hg. v. der Musik- Akademie der Stadt Basel), Winterthur 1993. (9) Urs Widmer: «Die Verlässlichkeit eines stetig geführten Lebens», in: Humphrey Bogart (= Reihe Hanser 209, Reihe Film 8, hg. v. Peter W. Jansen et al.), S. 131144. (10) R. K.: Zum Beispiel Mozart, Textteil, Basel 1981, S. 81. (11) Ebd., S. 9. (12) Zit. nach d. Verf.: «Docere inveniendo Invenire docendo oder Der Komponist als Musikdenker und Lehrer», in: Rudolf Kelterborn. Komponist, Musikdenker, Vermittler, hg. v. Andres Briner et al. (= Dossier Musik 3 Pro Helvetia), Bern 1993, S. 113126, hier S. 117. (13) R. K.: «Statement», in: «Entre Denges et DenezyÉ». Dokumente zur Schweizer Musikgeschichte 19002000, hg. v. Ulrich Mosch, Basel 2000, S. 271f. (14) Urs Frauchiger: «Rudolf Kelterborn als Musikvermittler und Programmgestalter», in: Rudolf Kelterborn, a. a. O. (Anm. 12), S. 127137, hier S. 127. (15) Ebd., S. 129f. (16) R. K. im Programmheft 2 der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, 2. Sinfoniekonzert, 12. September 1991, S. [14]. (17) R. K.: «Musik und Intellekt», in: ders.: Musik im Brennpunkt, a. a. O. (Anm. 3 und 8), S. 20. (18) R. K.: «Kompositorische Struktur im Dienste des musikalischen Ausdrucks», in: ders.: Musik im Brennpunkt, a. a. O. (Anm. 3 und 8), S. 94. (19) Zit. nach Sigfried Schibli: «<Technik heisst, ein Netz von Bezügen zu schaffen>. Ein Gespräch mit dem Komponisten Rudolf Kelterborn», in: Basler Zeitung 154, 26. September 1996, Nr. 225, S. 45. (20) Zit. nach Thomas Meyer: «Espressivo mit Einwürfen», in: Tages-Anzeiger , 8. Februar 2001, Nr. 32, S. 58. (21) Zit. nach Sigfried Schibli, a. a. O (Anm. 19), S. 45. (22) Ebd. (23) Christoph Keller: «Konstanten eines Schaffens», in: Dissonanz 31/Februar 1992, S. 30f., hier S. 31. (24) Patrick Müller: «Musik denken. Rudolf Kelterborn im Musikforum Zug», in: NZZ 218, 3. März 1997, Nr. 51, S. 23. (25) Zit. nach Sigfried Schibli, a. a. O. (Anm. 19), S. 45. (26) Ebd. (27) R. K.: «Musikalische Form als dramatischer Prozess», in: ders.: Musik im Brennpunkt, a. a. O. (Anm. 3), S. 100110, hier S. 100. (28) R. K. im Gespräch mit Arthur Godel: «Zur Sinfonie IV (in einem Satz)», in: ders.: Musik im Brennpunkt, a. a. O. (Anm. 3), S. 142146, hier S. 143. (29) R. K.: «Kommentar des Komponisten», in: Programmheft zur Uraufführung von Namenlos, Basler Musik Forum (6. Konzert 1996/97), 27. Mai 1997, S. [12]. (30) Thomas Meyer: «Dem Eindeutigen entzogen. Basel: Namenlos von R. Kelterborn (UA)», in: Dissonanz 53/August 1997, S. 27f., hier S. 27. (31) R. K. 1993, hier zit. nach d. Verf.: «Rudolf Kelterborn», in: Komponisten der Gegenwart, 10. Nachlieferung, München 1996, o. S. (32) Zu den Vier Fantasiestücken für Violine und Marimbaphon (1992/93) schreibt Kelterborn Ähnliches: «Die formale Offenheit (<Fantasie>) kommt am deutlichsten im letzten Stück zum Ausdruck: Der Schluss könnte ein Neuanfang in einem völlig veränderten <Klima> sein» (in: «Notizen zu den Werken» im Booklet zur Kelterborn-CD pan classics 510 112, Arth 1998, S. 5). (33) Der Text in «Komposition VI» ist Francesco Petrarcas Canzoniere 164 entnommen. Die letzten Worte bedeuten (in der Übersetzung des Komponisten): Wache ich und denke, glühe ich...
Homepage Rudolf Kelterborn: http://www.musicedition.ch/composers/27d.htm