(Foto: Olivier Christinat)
UNTER (POLITISCHEN) STOTTERERN Zum Klavierstück «Inter Balbulos» von Giuseppe G. Englert VON TOMAS BÄCHLI Musiker sind ungeeignet, über die von ihnen gespielten Werke ein klares Urteil zu fällen, dazu fehlt es an der Distanz. Lobpreisungen der gebotenen Kompositionen wirken bald einmal kontraproduktiv, denn statt verbaler Superlative erwartet man vom Interpreten, dass er sich mit seinem Können und seinem Engagement für die Musik einsetzt. Ich habe Giuseppe G. Englerts Inter Balbulos mit ähnlichem Vergnügen geübt wie Bachs Goldbergvariationen oder Saties Sports & divertissements dies soll keine persönliche Hitparade darstellen, sondern es ist ein Hinweis darauf, dass diese drei Werke etwas gemeinsam haben: Es sind die Töne, die sich verselbständigen. Sie ironisieren musikalische Ordnungen, sie strapazieren sie bis zum Äussersten und zetteln bisweilen sanfte Revolten an. Inter Balbulos wurde mit Hilfe eines Computers komponiert, der die äusserst elaborierten Anweisungen des Komponisten ausführt. Der resultierende Notentext bleibt unangetastet. In einem Interview mit Christoph Keller vom 17. November 1995 antwortet der Komponist auf die betreffende Frage: «Nein, Korrekturen nehme ich keine vor. Wenn ich es nicht akzeptieren kann, ist einfach das Programm schlecht. In diesem Fall muss ich wieder von vorn anfangen und das Programm ändern.» Dieses Prozedere sollte man weder ignorieren noch überbewerten. Allzu leicht koppelt sich der Diskurs von der Musik ab und bleibt in ziemlich beliebigen Fragestellungen (Mensch oder Maschine?) stecken. Komponisten sind für ihre Musik verantwortlich, egal ob sie dabei den Computer, den Zufall oder was auch immer anwenden. Die Rezeption sollte unvoreingenommen sein und sich nicht vom Wissen um den kompositorischen Prozess dominieren lassen. Inter Balbulos ist das erste längere Klavierstück Englerts und besteht aus 23 Perioden. Bei der Aufführung kann der Spieler eine Auswahl von mindestens zehn Perioden treffen. Die erste und letzte Periode sind obligatorisch, die Reihenfolge ebenfalls. Das Stück ist in space notation aufgeschrieben, das Tempo variabel, der Interpret hat das Recht, an jeder beliebigen Stelle eine Fermate einzufügen. Diese rhythmische Freizügigkeit korrespondiert mit einer für neue Musik ziemlich grossflächigen Dynamik. Hingegen wird die Artikulation akribisch festgehalten: Durch Haltebögen wird jeder Ton in seiner Länge exakt bestimmt. Die «indication générale» lautet «Mit Humor und Witz» (im Original deutsch). Ich verstehe dies als Aufforderung, die vielen Assoziationen, die sich dem Spieler geradezu aufdrängen, nicht verschämt zu unterschlagen, sondern auszuspielen. Es wimmelt im ganzen Stück von bekannten Phänomenen wie Trillern, Ganztonleitern, Blue Notes. In der Periode 23 erinnert ein penetrantes Alterieren von f' und d' an Schönbergs Opus 11 Nr.2; die Periode davor mit ihren virtuosen Doppelgriffen in sehr hoher Lage wirkt wie ein Messiaen-Imitat. Solche Reminiszenzen werden nur kurz angetippt, sie sind zu flüchtig, um als Stilzitat wahrgenommen zu werden Humor und Witz des Stücks sollen nicht allzu platt daherkommen. Dies gilt auch für eines der wichtigsten Merkmale des Stücks: die vielen tonalen und pseudotonalen Stellen. Um sie richtig einzuschätzen, bedarf es einer genaueren Klärung der gegenwärtigen Situation.
Tonalität Inter Balbulos wurde 1997 komponiert. Vorbei waren die heroischen Zeiten, als die Vertreter der Nachkriegsmoderne ihre Entwürfe vorlegten. Vorbei auch die Zeiten, in denen Drafi Deutscher ihnen seinen Schlager Marmor, Stein und Eisen bricht, diesen Hymnus auf die Eins-Vier-Fünf-Eins-Kadenz, entgegenschleuderte. Heute sind die kompositorischen Innovationen der Fünfzigerjahre längst in den Mainstream der neuen Musik eingegangen und man kann sie an jeder grösseren Musikhochschule studieren. Aber auch jene Komponisten, die seit den siebziger Jahren mit neotonalen Werken gegen die wirklichen oder vermeintlichen Zwänge der Avantgarde protestierten, haben inzwischen graue Haare. Die Musik, die man heute in Clubs oder auf Partys hört, hat mit der funktionalen Tonalität nichts mehr gemeinsam allenfalls kann man noch einen Grundton ausmachen. Er persönlich bemühe sich, seine sounds tonal zu ordnen, erzählte mir ein Musiker aus der Techno-Szene, als würde er der Institution Tonalität die letzte Ehre erweisen. Conditio sine qua non, wie zu Drafi Deutschers Zeiten, ist die Tonalität also auch in der populären Musik nicht mehr, diese Funktion haben unterdessen andere Parameter übernommen. Vor diesem Hintergrund sind die tonalen Stellen in Inter Balbulos zu verstehen. Betrachten wir z.B. die Periode 5 (Notenbeispiel 1): Beim Mezzoforte erklingt zunächst eine wunderschöne Auflösung einer Dissonanz (f'-h', e'-c''). Man denkt natürlich an einen V-I-Abschluss in C-Dur. Bereits einen Takt später wird jedoch klar, dass die vermeintlichen Leittöne Teil eines grösseren Tonvorrats sind, der keineswegs auf C-Dur hinweist. Ein anderer möglicher Grundton wäre das ais (Englert verwendet als Versetzungszeichen ausschliesslich Kreuze). Seltsam allerdings, dass der vermeintliche Zentralton jedesmal nur staccato angeschnippt wird, als wäre er sich seiner Sache nicht sicher. Nachdem auch diese Spur im Sand verlaufen ist, bietet sich am Ende der Periode noch D als Tonart an, schon wegen der auffälligen Häufung von ausgehaltenen und kurzen Ds. Nach einer gestisch ausladenden Figur schliesst die Periode mit der drolligen Akkordfolge übermässiger Dreiklang leere Quart. Tonalität ist bestenfalls eine Ehe auf Zeit. Um eine Tonart zu verlassen, sind keine aufwendigen Modulationen mehr notwendig. Der Zweifel, ob all die tonalen Bildungen nicht einfach Projektionen unserer Hörgewohnheiten sind, lässt sich nicht vertreiben.
Tonleitern Bei Aufführungen werde ich oft gefragt, wo all die Blues-Wendungen herkommen. In der Tat sind sie bemerkenswert für einen Komponisten, der bisher noch keinerlei Neigung zum Crossover gezeigt hat. Die Blues-Einschläge sind eine Folge des Kompositionsprozesses. Englert verwendet in diesem Stück siebenstufige Tonleitern, verzichtet also auf das chromatische Total. Allerdings hat die rechte und die linke Hand je ihre eigene Tonleiter. Die Position der Ganz- und Halbtöne wird durch das Computerprogramm ermittelt. Es entsteht also eine Vielfalt von diatonischen Tonfolgen. Die Blues-Assoziationen sind wohl auch ein Resultat unserer Hörgewohnheiten: Da die Blues-Tonleiter uns fast so geläufig ist wie das simple Dur und Moll, nehmen wir jede Ähnlichkeit mit ihr wahr. Einige Stellen klingen allerdings wirklich herzzerreissend, vor allem wenn man sie in gemächlichem Tempo spielt. Man hat den Eindruck, dass jemand bei dem Versuch, Blues zu spielen, ganz traurig scheitert: blues feeling, und erst noch verlorene Liebesmüh.
Kontrapunkt Der Klaviersatz von Inter Balbulos wirkt ausgesprochen polyphon. Dies ist eine Folge der elaborierten Artikulationsangaben, denn wie in einer Fuge von Bach werden die einzelnen Stimmen verschieden artikuliert. Da Englert in seinen Kompositionen jede Hierarchie vermeidet, ist der Verlauf der Stimmen oft mehrdeutig. Abgesehen davon, dass jede Aufteilung in Haupt- und Nebenstimmen unsinnig wäre, stellt man sich häufig die Frage, welche Töne dann überhaupt zusammengehören. Ich erkläre dies am Notenbeispiel 2. Ich versuche, die zehn Notenköpfe nach verschiedenen Kriterien linear zu ordnen: _ Nach der Lage: Dann haben wir drei Stimmen: cis'' h' f'', fis' d' c' d', und h ais h (die beiden letzten Noten wären eine Art Vorschlag). Dies steht allerdings im Gegensatz zu den Artikulationsvorschriften. _ Nach der Artikulation: Die drei kurzen Noten h ais c bilden eine Stimme. Die anderen Stimmen sind cis'' f'', fis' d' d' und h h'. _ Denkbar wäre auch ein Verlauf h ais h'' und h (legato) c'. Denkbar auch, dass sich vom fis aus zwei Oberstimmen bilden, die sich kreuzen: fis' d' f'' und fis' cis'' d'. Der Spieler muss sich für eine Version entscheiden allerdings sollte seine Darstellung dem Hörer die Möglichkeit geben, den Stimmenverlauf auch anders wahrzunehmen.
Inter Balbulos (Unter Stotterern) über die Wiederholung Englert bezeichnete sein Klavierstück einmal als eine Häresie gegenüber den Prinzipien der seriellen Nachkriegsmoderne. Er betonte dabei, dass die Häresie keine generelle Abkehr von diesen Prinzipien bedeute im Gegenteil, gehorche doch diese Häresie selbst auch wieder seriellen Prinzipien. Besonders ketzerisch wirken die vielen Wiederholungen, die recht penetrant und scheinbar völlig unsystematisch das ganze Stück durchziehen. Die Musikgeschichte kennt verschiedene Möglichkeiten im Umgang mit Wiederholungen. Einerseits ist Wiederholung ein Mittel, um Form zu gestalten (z.B. in der klassisch- romantischen Tradition), andererseits um den Hörer in einen Zustand von Trance zu versetzen (z.B. in der Minimal Music). Englerts Wiederholungen gehören in keine der beiden Kategorien: Sie sind zu widerborstig und zu inkonsequent, um den Hörer auf einen Trip zu bringen; sie sind aber auch zu sprunghaft, um als formbildendes Element wahrgenommen zu werden. Sie erinnern manchmal an die alten Langspielplatten mit einem Sprung: ein Beharren auf dem Immergleichen, oft mit komischem Effekt. Der Komponist versichert, mit dem Titel «Unter Stotterern» seien keine echten Stotterer gemeint. Vielmehr gehe es um die Beschreibung von Situationen, in denen Menschen «ins Stottern geraten». Anlass zu diesem Stück waren ein paar saftige Politskandale in Frankreich. Hier sei an eine denkwürdige Aufführung von Inter Balbulos erinnert, die im Rahmen eines Banketts stattfand. Gastgeber war der Schweizer Botschafter in Berlin, Thomas Borer-Fielding. Bei den Gästen handelte es sich um Vertreter von Medien und Politik, einige von ihnen in einer ausgesprochen schwierigen Phase ihrer Karriere. So zum Beispiel der hohe Vertreter einer deutschen Volkspartei, die damals täglich mit Meldungen über schwarze Kassen für Schlagzeilen sorgte, aber auch der Botschafter eines Landes, das in diese Zeit von der gesamten EU diplomatisch geschnitten wurde die Schweizer Botschaft war der letzte gesellschaftliche Zufluchtsort für diesen armen Mann. Ich spielte also vor Betroffenen. Die Ankündigung eines Stücks über Politiker, die ins Stottern geraten, löste unter den Anwesenden Heiterkeit aus, man hatte in dieser Runde durchaus Sinn für schwarzen Humor. Das Stück selbst sorgte dann doch für einige Irritation, wie den leicht gequälten Dankesworten des Gastgebers zu entnehmen war: «Wie Sie eben hören konnten, ist die Schweiz doch ein ziemlich modernes Land.» Wenn man ins Stottern kommt und sich in einer Endlosschlaufe verheddert wie findet man dennoch einen Ausweg? Meist durch völlig unerwartete Aktionen. Die Stellen, an denen die Musik den Kopf aus der Wiederholungsschlinge zieht, gehören zu den überraschendsten Momenten des Stücks. Im Notenbeispiel 4 beisst sich die rechte Hand in den Doppelgriffen f'' c', d'' - ais'' fest, während die Linke um den Halbtonschritt d' cis' kreist. Die Rettung aus diesem Laufrad im Hamsterkäfig ist ebenso einfach wie frappant: die parallelen Sexten d''' f'', h'' d'' (sie erinnern an eine Türklingel). Dieser Ausweg ist so verblüffend, dass man bereit ist, allem Computer zum Trotz von einem Einfall zu sprechen. Für die eigentümlichen Repetitionen gibt es allerdings noch eine weitere Analogie. Wer ein kleines Kind beim Spielen beobachtet, staunt zunächst darüber, mit welcher Beharrlichkeit es dieselben Vorgänge wiederholt: immer wieder die Rutschbahn hinunter rutschen, immer wieder das gleiche Puzzle zusammensetzen um sich dann ganz unvermittelt und mit der gleichen Entschiedenheit etwas anderem zuzuwenden. Für uns Erwachsene, die wir gewohnt sind, alle unsere Entscheidungen zu erklären, wirkt dieses Verhalten sprunghaft und irrational. Dabei handelt das Kind ganz logisch. Es hat einfach genug vom alten Spiel und langweilt sich. In eingangs erwähnten Interview mit Christoph Keller erklärt Giuseppe G. Englert, dass für ihn eines der verlässlichsten Kriterien darin bestehe, ob ihn ein Stück langweile oder nicht. «Die Langeweile geht über den Geschmack hinaus. Sie ist die grösste Gefahr, die vermieden werden muss.» Die Wiederholungen in Inter Balbulos gehen hart an die Grenze der Langeweile, ohne diesen Punkt jemals zu überschreiten. Das macht, nebst anderem, den Charme dieses Stücks aus.
Homepage Giuseppe G.Englert:
http://www-zb.unizh.ch/SONDERSA/MUSIK/Englert/Englert.htm