Vorwärts in die Vergangenheit
Wo steht das Collegium Novum Zürich heute?
Eine Zeit lang ist das Collegium Novum Zürich (CNZ) auch in einem Zürcher Brockenhaus aufgetreten. Zwischen Plüschsofas und Plissée-Lampenschirmen hat man gespielt und zugehört, manchmal wirkten die Konzerte wie eine Marthaler-Inszenierung – und das Publikum liebte sie. Es war ein breites Publikum, nicht nur die üblichen Neue-Musik-Aficionados. Aber als das Brockenhaus eine neue Leitung bekam, wurde das Projekt als «zu schräg» taxiert. Und das Collegium Novum machte sich auf die Suche nach neuen Orten jenseits der üblichen Nischen.
Im Haus Konstruktiv stellt Matthias Ziegler seine Viertelton-Bass- und Kontrabass-Flöten vor. Ganz allein bestreitet er die Saisoneröffnung des Collegium Novum. Aber die Instrumente klingen dank Elektronik zuweilen wie ein ganzes Orchester (oder auch wie ein Bergsturz, oder ein Schmetterlingsschwarm).
1993 wurde das Ensemble gegründet, als Nachfolgeinstitution von Paul Sachers Collegium Musicum Zürich selig. Ein Solistenensemble sollte es sein, wie das nur wenige Jahre ältere Klangforum Wien, das der Schweizer Beat Furrer initiiert hatte, wie das Frankfurter Ensemble Modern oder das Pariser Ensemble Intercontemporain. Und natürlich wünschte man sich, dass neben der Form auch die Qualität sich nach diesen Vorbildern richten würde.
Dass dieses Ziel nicht einfach zu erreichen sein würde, wurde bald klar. 1996 wollte der Zürcher Stadtrat zwar die zuvor nur punktuellen Beiträge durch eine Subvention von 300 000 Franken ersetzen, aber sie wurde dann gleich wieder auf 200 000 Franken gekürzt, weil man freies Geld für Chorbegleitungen benötigte. Ein herzhaftes Bekenntnis zum Zeitgenössischen hätte anders ausgesehen. Aber der damalige künstlerische Leiter liess sich nicht entmutigen. Michael Haefliger plante die Konzerte gerne als Zyklen und lud dafür möglichst prominente und populäre Namen ein; es kamen Hans Werner Henze, Mauricio Kagel oder Sofia Gubaidulina (die in diesem Sommer auch bei Haefligers Lucerne Festival als Composer-in-residence eingeladen ist). Das Echo war gross, selbst der Blick berichtete über ein Kagel-Konzert, wenn auch eher negativ. Die übrige Presse verfolgte die Aktivitäten mit hoffnungsvoller Sympathie.
Aber von den Vergleichsensembles war bald nicht mehr die Rede, und das hat sich bis heute nicht geändert. Das hat einerseits mit Geld zu tun: Während die Musiker in den Top-Ensembles per Monatsgehalt angestellt sind, werden die Mitglieder des Collegium Novum pro Einsatz bezahlt; die Existenzsicherung muss anderswo stattfinden. Es hat aber auch mit ästhetischen Entscheidungen zu tun: Viele Spitzenensembles der Neuen Musik, vor allem die deutschen, klingen heute messerscharf in ihrer Präzision, gabelspitz in ihrer Artikulation, glasklar in ihrem Klang. Eine Aufführung gilt dann als gelungen, wenn die Partitur möglichst detailgenau umgesetzt wurde; dass dieser Perfektionismus trotzdem nicht nach Buchhalterei klingt, macht dann eben die Qualität dieser Ensembles aus. Das Collegium Novum hat bei diesem Wettspiel um die ultimative Präzision keine Medaillenambitionen; hier geht es um andere Qualitäten, und sie liegen vor allem im Klang. Warm und bei Bedarf weich ist er, in den weniger guten Momenten auch mal wolkig. Und er ist geprägt von den Persönlichkeiten und Eigenheiten der Musikerinnern und Musiker, die zwar gut aufeinander eingespielt sind (bemerkenswert viele sind seit langem dabei), aber aus ganz unterschiedlichen Ecken der Musikwelt kommen.
Der Klarinettist Elmar Schmid ist auch ein leidenschaftlicher Volksmusiker; der Flötist Matthias Ziegler experimentiert mit elektronischen Gadgets für seine Instrumente; der Oboist Matthias Arter komponiert auch; die Geigerin Rahel Cunz ist hauptamtlich im Musikkollegium Winterthur engagiert; ihre Kollegin Bettina Boller holt immer wieder Komponisten wie Othmar Schoeck oder Wilhelm Furtwängler aus der Versenkung; die Harfenistin Xenia Schindler und der Fagottist Stefan Buri haben sich vertieft mit Alter Musik befasst – und so weiter. Viele unterrichten auch. Eine Stammformation wie in den Anfängen gibt es nicht mehr, man setzt die Leute nach Verfügbarkeit und stilistischen Vorlieben ein. Das ist Vor- und Nachteil gleichzeitig: Das Collegium Novum kann überaus lustvoll klingen, aber manchmal vermisst man die interpretatorische Verbindlichkeit. Mit den Jahren hat es sich zum Sammelbecken für hoch kompetente Charakterköpfe entwickelt, die ihre Stärken auszuspielen wissen; aber es kann auch vorkommen, dass ein profilierter Solist die Ensemblekonstellation in Schieflage bringt.
Was für eine Entdeckung, diese 1912/13 entstandenen «Quatre poèmes hindous» von Maurice Delage! Und was für eine Ernüchterung, die 50-minütige, mit viel orientalisierendem Ballast überladene Kantate Matra des Italienschweizers Oscar Bianchi! Nun ja, die Bassgruppe hatte einen grossen Auftritt. Die anderen hatten die Zeit mit allerlei Erbstücken vergangener Avantgarden auszufüllen. Sie taten es immerhin bemerkenswert engagiert.
Aber zurück zum Traum von der internationalen Bedeutung. Der erfüllte sich dann eben doch relativ bald: Patrick Müller, Haefliger-Nachfolger ab 1999, fädelte die entsprechenden Kontakte ein und verabschiedete sich mit klug konzipierten Programmen vom Neue-Musik-Mainstream. Aber er überhob sich finanziell derart, dass der Verein Collegium Novum die Notbremse ziehen musste. In die Saison 2004/05 zog man mit 200 000 Franken Defizit, bei einer Subvention von damals 250 000 Franken; da half alle künstlerische Anerkennung nichts. Christoph Keller, der Pianist des Ensembles, spielte damals den Feuerwehrmann, mit Unterstützung von Matthias Ziegler und dem Geiger Urs Walker; man sagte Konzerte ab, plante günstige Programme und gab die Verantwortung dann an Christian Fausch weiter.
Fausch setzte immer noch auf internationale Auftritte, aber vor allem war er ein geschickter Geldauftreiber – und er hatte die Glanzidee, das Ensemble in die ursprünglich von Christoph Keller und dem Tenor Christoph Homberger initiierte Brockenhaus-Reihe einzuschleusen. Unter seiner Leitung wollte das Collegium Novum nun nicht mehr nur über die Grenzen hinaus, sondern vor allem in die Stadt hinein, unter die Leute. Unter mehr Leute als bisher. In den Anfängen des CNZ hatte der damalige Stadtpräsident Josef Estermann noch die Zukunftshoffnung formuliert, dass aus den 400 Zuhörern dereinst 4000 werden könnten; aber beim 10- und 15-jährigen Jubiläum des Ensembles war man froh, wenn auch nur 200 kamen. Das wurde nun zumindest punktuell anders. Zwar gab es immer noch Konzerte, in denen die Eingeweihten unter sich waren; aber es gab auch andere, die breiter wahrgenommen wurden.
Seit 2010 leitet nun der 50-jährige Jens Schubbe die Geschicke des Collegium Novum. Aufgewachsen in Mecklenburg, ausgebildet in Musik und Germanistik, hat er sich in Berlin als Dramaturg mit zeitgenössischem Spezialgebiet profiliert, erst bei der Kammeroper, dann im Konzerthaus. Neben ihm ist der Projektleiter und Geschäftsführer Alexander von Nell administrativ für das Collegium Novum tätig. Zwei Köpfe für ein volles, komplexes Saisonprogramm: Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich dieses Ensemble von den Top Five. Das Klangforum Wien etwa beschäftigt neben dem Intendanten und einer Sekretärin zahlreiche Leute für die Reiseplanung, die Notenbeschaffung, die Solistenbetreuung, fürs Marketing, die Buchhaltung und das Stage Management. Auch beim Ensemble Modern sorgt ein vielköpfiges Team für einen professionellen Betrieb.
Grosse Künstler reichen nun mal nicht aus, um grosse Kunst zu machen, es braucht auch Geld. Das gilt bei den Ensembles für zeitgenössische Musik genauso wie bei allen anderen kulturellen Akteuren. Mittlerweile ist die städtische Subvention des CNZ zwar auf 412 000 Franken angewachsen, aber das ist selbst für schweizerische Verhältnisse nicht wahnsinnig viel. So bekommt etwa das Genfer Ensemble Contrechamps 1,2 Millionen Franken Subventionen; bei einem Budget von 1,8 Millionen Franken beläuft sich die Eigenfinanzierung damit auf 33 Prozent. Das Collegium Novum dagegen muss rund 60 Prozent des Jahresbudgets (800 000 bis 1 Million Franken) bei Stiftungen, Sponsoren und beim Publikum eintreiben.
Für die grossformatige Partitur von Jorge E. Lopez’ «A végsö Tavasz» braucht der Dirigent Michael Wendeberg einen Tisch. Grossformatig ist auch der Klang des Werks, den das CNZ zusammen mit dem Klangforum Wien in Auftrag gegeben hat. 10 Musiker und eine Sängerin sind im Einsatz: Das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag ist so günstig, dass man sich ein Stück des vergessenen Maurice Ohana mit dritteltönig gestimmten Zithern leisten kann.
Dass die Leitung des Collegium Novum ein Verschleissjob ist, haben schon Christian Fausch und Patrick Müller erfahren müssen. Die künstlerische Verantwortung, die ständige Jagd nach Ressourcen, die Administration: Das zehrt auf die Dauer. Auch Jens Schubbe weiss das, und er will deshalb etwas zurückbuchstabieren. Etwas weniger Konzerte veranstalten, etwas weniger reisen, nichts versprechen, was man nicht halten kann. Im Saisonprogramm 2012/13 ist nur das abgedruckt, was ganz sicher stattfindet, also ein bis zwei Konzerte pro Monat; «manches wird noch dazukommen, wenn wir genügend Geld haben», sagt er.
Dazu kommen dürften zum Beispiel Projekte im Zürcher Cabaret Voltaire. Nach dem Ende des Brockenhaus-Experiments hat man hier, im Dada-Haus, einen neuen Ort für einen Salon gefunden. Die Bar-Mitarbeiter hätten sich ein wenig gewundert über das, was da aus dem Veranstaltungsraum getönt habe, sagt Schubbe; und viele, die während einer Probe am offenen Fenster vorbeigingen, seien stehen geblieben. «Das ist genau das, was wir suchen: einen zentralen Ort, an dem auch Leute sind, die nicht von vornherein in jedes Konzert mit Neuer Musik rennen.»
Sinnlichkeit ist ein wichtiges Stichwort für Schubbe. Schon vor Konzertbeginn, und auch nach Konzertende: Künftig soll eine auf kulturelle Belange spezialisierte Eventagentur ein stimmiges Ambiente schaffen, Catering inklusive (nur bei den Tonhalle-Konzerten bleibts beim leidigen Kongresshaus-Buffet). Und natürlich sollen auch die Konzerte selbst «den Kopf und den Bauch ansprechen». Auch deshalb ist Schubbe glücklich über die künstlerischen Qualitäten, die das Collegium Novum bietet: Ein lebendiger Klang ist ihm wichtiger als die Perfektion in jedem Detail: «Ich höre liebend gerne Aufnahmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; da klappert zwar manches, aber der Geist der Werke ist da.»
Er liebt auch die Werke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert: Unter seiner Leitung fasst das Collegium Novum den Begriff des Neuen weiter als in seiner ganzen bisherigen Geschichte. Zwar hat man auch schon früher Schönbergs Mahler-Bearbeitungen gespielt; aber nun wird konsequent und entdeckungsfreudig und sehr verdienstvollerweise jene Lücke gefüllt, die zwischen dem klassischen Konzertleben und dem uraufführungssüchtigen Neue-Musik-Betrieb klafft.
Maderna, Cage, Schönberg: Man hört sie kaum in klassischen Konzerten. Man hört sie ebenso selten bei den Spezialisten fürs Zeitgenössische. Im Haus Konstruktiv erklangen späte Werke der drei zwischen den späten Filmen des Künstlers Klaus Lutz: Die konzeptionelle Idee ist da, als Korsett wirkt sie nicht.
Damit hat das Collegium Novum Zürich einmal mehr eine Neuausrichtung erlebt. Nach den prominenten Namen der jeweiligen Gegenwart (Haefliger), den radikal durchdachten Konzepten (Müller), der stabilisierenden Programm- und Finanzpolitik (Fausch) geht es nun darum, die Gegenwart in die nie zur Tradition gewordene Tradition einzubinden. Natürlich, es ist keine Haarnadelkurve, durch die Schubbe das Ensemble steuert. In vielen Dingen ist er ästhetisch ganz auf der Linie von Christian Fausch, und bei der Öffnung für ein breiteres Publikum, bei der Suche nach neuen Orten, setzt er exakt dessen Politik fort.
Das kommt bei den Musikern gut an. Es sei «eine sehr starke Phase» für das Collegium Novum, sagt der Flötist Matthias Ziegler, der schon seit der Gründung dabei ist. Wegen der stilistisch breiten Ausrichtung, wegen der guten Balance zwischen eigenen Projekten und Festival-Auftritten, weil lauter hervorragende Instrumentalisten mittun und der Ensemble-Geist so ist, «dass die Dirigenten wirklich arbeiten können». Der Einbezug des früheren 20. Jahrhunderts komme dem Ensemble entgegen, «ich glaube, wir haben eine Sensibilität für diese Werke». Und Jens Schubbe selbst sei «ein unglaublicher Typ»: «Man kann mit ihm diskutieren wie mit einem Musiker, er kennt alles, weiss alles; und wenn er über Musik spricht, dann ist das so inspiriert und inspirierend – das überträgt sich auch aufs Publikum.» Offen sei das Klima, auch was die Programmgestaltung angeht. Zwar sei Schubbe ein «Madernianer», und seine Vorliebe für Maurice Ohana ist auch für Aussenstehende nicht zu übersehen. Aber gleichzeitig schaue er sich auch jene Vorschläge von Musikerseite genau an, über die er im ersten Moment die Nase rümpft; «und dann kommt er nach einer Woche wieder und sagt, doch, dieses Stück von Flo Menezes ist wirklich gut, das machen wir.»
Schubbe wiederum schätzt am Collegium Novum nicht nur den Klang, sondern auch die Haltung; dass man nicht um jeden Preis überall spielen will, sondern auch mal Veranstalterwünsche nicht erfüllt, weil man andere Prioritäten setzt. «Vielleicht ist die Spitzenliga ja gar nicht nur erstrebenswert», sagt er, und es klingt keineswegs nach künstlerischer Resignation. Sondern nach einer Entscheidung für das Eigene, für das, was nach Zürich passt und in Zürich möglich ist. In Berlin hat Schubbe eine ungemein vitale Neue-Musik-Szene erlebt, mit vielen Akteuren, wenig Geld, knallharter Konkurrenz. Zürich sei gemütlicher, sagt er; zwar gibt es auch hier diverse Ensembles fürs Zeitgenössische, aber die liefern sich keine Revierkämpfe (mehr). Auch die Schweizer Medien erlebt er im Vergleich zur «ziemlich aggressiven» deutschen Presse als respektvoll – wobei man hier durchaus den Wunsch nach griffigeren Auseinandersetzungen heraushören kann. Und schliesslich ist auch das Publikum anders: bunt und altersdurchmischt in Berlin, eher bürgerlich in Zürich.
Das allerdings möchte Schubbe ändern. Natürlich weiss er, dass er nicht als einziger im Konzertbetrieb jene «mittlere Generation» umwirbt, die so oft fehlt in den Konzerten; er weiss auch, dass der gute Wille zur Öffnung wenig bringt, wenn man Brockenhaus-Leiter und andere Aussenstehende nicht für Experimente begeistern kann. Genau darum agiert er auf verschiedenen Kanälen. Er interessiert sich für Plattformen wie modernmusix.com, die Konzertaufzeichnungen legal ins Netz stellen. Neben dem Haus Konstruktiv wird das Collegium Novum in der anstehenden Saison auch das Museum für Gestaltung bespielen, wo Schubbe den «ziemlich unterbenutzten Vortragssaal mit wirklich guter Akustik» entdeckt hat. Und auf der Homepage des Collegium Novum findet sich ein origineller Versuch, Publikum ans Ensemble anzubinden: Dort kann man für einen frei wählbaren Betrag eine Note aus Stefan Wirths Enallagai kaufen – einem Werk, das das CNZ zusammen mit dem WDR Köln in Auftrag gegeben hat. Auf dass man im Konzert zumindest einen Sekundenbruchteil lang das Gefühl haben darf, hier werde wirklich ganz die eigene Musik gespielt.
Das Collegium Novum Zürich spielt im Zürcher Hauptbahnhof Stockhausens Raumkomposition «Ylem» und Steve Reichs «Different Trains». Beide Werke werden später ohne Hintergrundgeräusche in Konzerten wiederholt – wer weiss, vielleicht finden ja ein paar neugierig gewordene Pendler den Weg da hin.