Dissonance

Dunkle Passionen

Neue Opern von Péter Eötvös und Kaija Saariaho

Thomas Meyer

 

«Als Meisterwerk kann man ja nur ein Werk bezeichnen, das etwas beendet. Und das ist die geschichtliche Funktion der Oper Die Soldaten: Sie ist ein Schlussstein, über den hinaus Oper seither nicht mehr gegangen ist. Wozzeck, Lulu, Moses und Aron, Die Soldaten, Schluss. Im Musiktheater gibt es heute viele Versuche, aber nichts von diesem Gewicht», sagte Michael Gielen kürzlich im Gespräch. Tatsächlich: Seine Ansicht ist mir nicht fremd. Lange dachte ich auch so, bis ich dann verschiedene Musiktheaterwerke entdeckte, die es durchaus wert waren, beachtet zu werden: Harrison Birtwistles Gawain und The Second Mrs Kong etwa, Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici oder Macbeth, Wolfgang Rihms Hamletmaschine, John Adams’ Nixon in China und El niño, Philip Glass’ Einstein on the Beach und so weiter. Gewiss: Nur weniges davon «beendet» etwas in der Musikgeschichte. Der grosse Entwurf wie bei Zimmermann wäre so zu vermissen, aber eröffnet wird doch auch längst Neues, und Meisterwerke sind ebenfalls etliche darunter. Mehr noch: All diese Komponisten haben sich erstaunlicherweise wieder als veritable Opernkomponisten erwiesen und etabliert, das heisst: Sie haben nicht nur ein einziges Opus magnum geschaffen, sondern die einmal begonnene Linie weiter verfolgt, sie anerkennen gleichsam den Opernbetrieb und schaffen – zum Teil mit erstaunlicher Schnelligkeit – ein Stück nach dem anderen: Sciarrino, Rihm, Pascal Dusapin, Beat Furrer, sicher auch Péter Eötvös und Kaija Saariaho.

 

Die beiden letztgenannten sind besonders produktiv. Eötvös’ Die Tragödie des Teufels, Mitte Februar an der Bayerischen Staatsoper gespielt, war bereits die dritte Opernuraufführung innert zweier Jahre, nach der vom japanischen Mittelalter inspirierten Oper Lady Sarashina (Lyon) sowie Love and Other Demons nach Gabriel García Márquez (Glyndebourne). Und wiederum ist es ein völlig anderer Plot. Eötvös will sich offensichtlich nicht wiederholen. Seit seiner Tschechow-Oper Drei Schwestern, die ihm zur weiten Anerkennung verhalf, hat er fast jedes Mal einen neuen Stoff aufgegriffen: zunächst Le Balcon nach Jean Genet, dann das Aids-Drama Angels in America nach Tony Kushner (sein vielleicht allerbestes Bühnenwerk).

 

Nun also nach München: Luzifer ist ein gern gesehener Gast im zeitgenössischen Musiktheater. Meistens scheitert er, entweder an der Güte, neuerdings aber auch an der Bosheit des Menschen. Das macht seine Tragödie aus. Und so heisst die neue Oper denn auch Die Tragödie des Teufels. Das Libretto verfasste der Dichter Albert Ostermaier. «Die herzen überzogen mit frost / wollt ich mit den nägeln / über ihre vereisten seelen [der Menschen] kratzen / damit gott die kalligraphie des / teufels sieht und wie ich seine / heilige schrift überschreibe»: Ein schlichtes, fast unbegleitetes Lied Luzifers ist der zentrale Moment in dieser «komisch-utopischen Oper». Wieder einmal versucht der Teufel, den Menschen zu verführen und die Welt für sich zu gewinnen. Wie er das hier freilich tut, ist ungewöhnlich, ja verwirrlich. Am einfachsten lässt es sich wohl anhand einer der vielen Vorlagen der Oper zusammenfassen.

Eötvös: Die Tragödie des Teufels

Péter Eötvös, «Die Tragödie des Teufels». Foto: Wilfried Hösl

 

In seiner Tragödie des Menschen erzählt der Ungar Imre Madách 1861, wie der Teufel die ersten Menschen auf eine virtuelle Zeitreise mitnimmt. Er lässt sie erleben, was nach dem Sündenfall alles geschehen wird. Entsetzt darüber will Adam das Geschehen anhalten, aber da ist Eva schon schwanger. Die Menschheitsgeschichte wird ihren Lauf nehmen. Das ist freilich nur die eine Ebene der Oper. Ostermaier hat mehrere Ebenen darüber gelegt: Hebräische Mythologien etwa wie jene von Adams erster Frau Lilith. Elemente aus Science-Fiction-Filmen wie The Matrix von den Wachowski Brothers und Strange Days von Kathryn Bigelow fliessen ein, dazu haufenweise Gegenwartsbezüge und Anspielungen. Bagdad wird zum Beispiel zum Ort eines grausamen und sinnlosen Kreuzzugs. Das ist höchst interessant, jedoch hoffnungslos überfrachtet. Und wenn einem schon beim Lesen des Librettos leicht schwindlig wird, dann erst recht, wenn das Ganze als Oper vorbeieilt. So gewieft nämlich Eötvös mittlerweile als Musiktheaterkomponist ist: Dieses Mal jedoch wird er der Dichte des Stoffs und des Texts nicht Herr. Natürlich blitzt immer wieder auf, wie wunderbar er Atmosphäre entstehen lassen kann, wie selbstverständlich und spielerisch frei er mit den Stilen umgeht und wie er damit Personen charakterisiert, den Teufel eben mit einem Chansonstil, aber wie schon ein wenig in Le Balcon gerät ihm das Groteske zu undeutlich und zu hektisch. Text und Musik nehmen sich zu selten die nötige Zeit, um die Personen wirklich zu exponieren, sie zu charakterisieren und sich entwickeln zu lassen. Die fünf Gehilfen des Teufels etwa bleiben, so interessant sie einzeln auch wären, völlig blass. Adams und Evas Gefühle werden holzschnitthaft dargestellt. Die Handlung hastet ohne Pause in nicht mal zwei Stunden vorbei, und sie wirkt dabei, so paradox das klingen mag, zu langfädig, obwohl sie sich zuwenig Zeit nimmt, denn niemals wirklich kommen wir in die-se Story hinein. Dazu dreht sich das Bühnenkarussell von Ilya und Emilia Kabakov, und Regisseur Balázs Kovalik lässt die Personen umherirren. Auch das verhilft dem Stück nicht zur Klarheit. Es mag ja ein bisschen gönnerhaft wirken, aber man möchte Eötvös und Ostermaier raten, das ganze Stück nochmals auseinanderzunehmen, es genauer durchzuarbeiten und es dann neu zur Entfaltung zu bringen. Das Potential wäre schon vorhanden. Und vielleicht liesse sich da auch die heikle Sache mit der Komik in den Griff kriegen.

 

Anders bei Kaija Saariaho. Sie wagt sich nicht in den komischen Bereich. Sie wechselt auch höchstens geringfügig den Tonfall. Ihre bislang dreieinhalb Opern – rund um Frauengestalten konzipiert – sind im Charakter ähnlich ernst. Diesmal hat sie ein Monodrama geschaffen. Und damit durchaus ein Gegenstück zu den grossen Vorbildern, zu Schönbergs Erwartung und Poulencs La voix humaine. So sehr sie diese Stücke schätze, so habe sie immer dabei gestört, dass die Frau jeweils ziemlich hilflos und verzweifelt auf den abwesenden Mann wartet. Mit der Oper Émilie, die am 1. März in Lyon uraufgeführt wurde, entwarf sie ein Gegenstück: das Portrait einer eigenständigen Frau. Diese Émilie ist sich bewusst, dass sie der Mann, von dem sie ein Kind erwartet, nicht mehr wirklich liebt. Sie schreibt ihm, dem Dichter Saint-Lambert, einen Brief und lässt dabei all die anderen Männer Revue passieren, die ihr Leben prägten: den Vater (Baron de Breteuil), den Gatten (Marquis du Châtelet), den Geliebten und Vertrauten (Voltaire) sowie den grossen Wissenschaftler (Isaac Newton), dessen grosses naturphilosophisches Werk sie übersetzt.

 

Diese Frau hat wirklich gelebt. Émilie le Tonnelier du Châtelet war eine Lichtgestalt der französischen Aufklärung. Sie interessierte sich für die Wissenschaften, lebte eine freie Liebe, experimentierte in der Physik, schrieb Essays, etwa über das Glück, und übersetzte eben das Werk Newtons. Sie starb mit 43 nach der Geburt einer Tochter. Im Libretto, das der Dichter Amin Maalouf für Saariaho schuf, erleben wir sie wenige Tage vor der Niederkunft. Sie ahnt ihren Tod voraus. Ihre grösste Sorge ist dabei, dass sie mit der Übersetzung nicht fertig werden könnte, denn sie ist eine ebenso leidenschaftliche Wissenschaftlerin wie Liebhaberin. All das wird allmählich in neun Szenen aufgefächert, gleichsam in mehreren Kapiteln – mit grosser Klarheit, und das hilft dem Stück auch auf der Opernbühne weiter, zumal es sich für eine grosse Sängerin eignet. Betrachtet man freilich die erhaltenen Portraits dieser Frau, so kommt sie einem sehr fein vor, und wenn man sich dafür auch nicht gleich Christine Schäfer vorstellt, so doch, sagen wir, eine Mozart-Stimme von grosser Agilität. Als Idealinterpretin hatte Saariaho allerdings eine Landsfrau im Sinn, für die sie bereits schon einmal komponiert hatte: die finnische Sopranistin Karita Mattila, die durch Rollen bei Verdi, Wagner, Strauss und Puccini bekannt wurde. Für sie zu komponieren, war der Ausgangspunkt. Deshalb wandelt sich Émilie allmählich in Richtung von Mattila, in der Stimme und in der Darstellung; sie wurde dramatischer als diese feinsinnige, besonnene Frau gewesen sein dürfte, wirkt nun weniger wie jene «divine Émilie», die Voltaire pries, sondern eher wie eine Operndiva. Grosse Passion dominiert anstelle von wilder Lust, nicht nur mit ihren Liebhabern, sondern auch in ihrem blitzartigen Denken. So beginnt allmählich der Gestus der grossen Oper das Stück zu überwuchern. Und so habe ich vor allem das Ausbrechen Émilies aus den Standesnormen, diese Pointiertheit einer belesenen Frau, die Lust am eigenen Leben, die Lust auch an der Erkenntnis und an der Aufklärung, hier vermisst. Bezeichnend dafür ist ein Moment am Ende des 8. Bildes. Auf diesem Höhepunkt deklamiert Émilie pathetisch den Titel des Newtonschen Werks: «Principes mathématiques de la philosophie naturelle». Er wird zur Chiffre der Leidenschaft, die zwar fortissimo behauptet, aber dahinter zu wenig spürbar wird. Was steckt dahinter? Es war eine neue Weltsicht, die Begeisterung am Blick ins Weltall, die Faszination am Projekt. Das bleibt hier zurück. Der Nachruhm wiegt schwerer, und er macht auch die Musik insgesamt etwas zu schwer für diese Émilie. Die Musik glitzert zwar, vor allem durch das verstärkte und sehr gezielt eingesetzt Cembalo sowie die Perkussion, aber zum Leuchten kommt sie nicht. Die Passion ist etwas zu dunkel geraten. Zwar wird man bewundern, wie das Orchester (geleitet von Kazushi Ono) hier die Solistin begleitet, unterstützt und trägt, die Vokallinien sinnvoll fortsetzt oder sie vorbereitet (das ist handwerklich äusserst geschickt gemacht), aber dem Werk fehlt schliesslich der behende Esprit.

 

Dieser Artikel wurde publiziert in DISSONANCE 110, Juni 2010, S. 73-74.

by moxi