Valentin Marti: Grammont Portrait
Le Journal de Sisyphe, Tempio in tre impressioni, Aus der Ferne, Charon schläft (... kein Notturno), Fernruf J 12
Diverse Interpreten
Musiques Suisses/Grammont Portrait, MGB CTS-M 123
«Il n’y a qu’un problème philosophique vraiment sérieux : c’est le suicide.» In einer Welt ohne Sinn ein Leben zu führen, das unweigerlich nach Sinn verlangt: das ist die Absurdität des Sisyphos. Ist ein solches Leben die Mühe wert? Der Komponist Valentin Marti hat sich der Frage angenommen. Auf jenseitige Sinnstiftung verzichtend, nimmt er im Sinne Camus’ den hoffnungslosen Kampf gegen das Absurde an und findet den einzigen Zweck des menschlichen Lebens in ebendiesem Vollzug: der aussichtslosen Sinnsuche im Diesseits. Marti sucht im Feld der Klänge – doch tut er dies ganz ohne Bitterkeit. Er zeigt, dass es ein freudiger Kampf sein kann, das Akustische zu durchkämmen, ohne auf Transzendentes zu verweisen, ohne Ideologien zu bedienen, ohne Konzepte zu verwirklichen – Marti treibt um, was den Tönen immanent ist. In der Reihe Musiques Suisses/Grammont Portrait ist nun eine Aufnahme erschienen, die fünf seiner Werke umfasst.
Martis Expedition geschieht nicht ins Blaue hinaus. Er weiss, wie entscheidend die genaue Kenntnis der Instrumente ist. Als erfahrener Saxophonist hat er die vielfältigen Möglichkeiten seines Instruments verinnerlicht: Im Solostück Charon schläft (… kein Notturno), entstanden 2007 für Tenorsaxophon, erzeugt der Saxophonist Marcus Weiss bereits in den ersten Takten einen grossen Klangreichtum, indem er behutsam, aber effektvoll ein äusserst beschränktes Material verändert – ein pulsierender Ton verdoppelt sich zu einem Hecheln, differenziert sich zu einer Tonalterierung, ändert allmählich seine Farbe. Dann ein neuer Puls, der immer wieder unterbrochen wird. Unterschiedliche Klangebenen beginnen sich voneinander zu lösen. Das Saxophon wird zu einem Charakter, kein Stereotyp, sondern ein lebensechtes Subjekt: widersprüchlich, unstet, selbstaffizierend. Die feinfühlige Dramaturgie lässt den Hörer die Bewegungen der Klänge wie einen «stream of consciousness» nachvollziehen.
Eine solche Differenziertheit lassen die sechs Teile von Aus der Ferne für Blockflöte, Gambe und Cembalo/Orgel (2006) vermissen. Auch hier setzt Marti auf Beschränkung des Materials, doch anders als in Charon schläft bleiben die Stücke statisch. Die Instrumente entwickeln nicht die Farbigkeit und Tiefenschärfe des Saxophons. Die Kürze der Sätze mag die Spärlichkeit der musikalischen Einfälle verzeihen lassen – sie birgt aber gleichzeitig die Gefahr der Beliebigkeit oder gar unfreiwilligen Komik.
Das Werk Tempio in tre impressioni (2004) für Renaissance-Blockflöte und Perkussion überzeugt wiederum durch seine archaische Atmosphäre: Marti, inspiriert von griechischen Tempelruinen auf Sizilien, lässt die Flöte fabulieren. Endlose mikrotonale Melodien, die sich oft um wenige Töne ranken, werden zurückhaltend von vereinzelten Schlägen und Kratzgeräuschen auf Tamburin, Holzblöcken oder Gongs begleitet. Sofort werden Bilder evoziert: orientalische Ornamentik, Steinwüsten, schwere Hitze. Es ist Martis Stärke, mit wenigen Klängen solche Welten zu schaffen. Dass er sich auch als politischer Künstler versteht, beweist Fernruf J 12 für Sopran, Oboe, Violoncello und Klavier (2001): Die Vertonung einer im Dritten Reich veröffentlichten «Liste der Musikbolschewisten », auf er Namen wie Alban Berg oder Anton Webern erscheinen. Mit expressiven Glissandi und weiten Intervallsprüngen im Sopran wird grosse Dramatik angerührt, was den fahlen Beigeschmack des Erwartbaren hinterlässt. Von Beginn an herrscht Anspannung. Marti bemüht starke Kontraste zwischen gehaltenen Klängen, die durch kurze Akzente fragmentiert werden. Zusammen mit dem sehr expliziten Text lässt das Stück keinerlei Ambivalenz offen und erzielt, vorhersehbar wie es ist, nicht die wohl beabsichtigte Wirkung.
Wirklich eindringlich ist Martis Musik nicht im exzentrischen Pathos, sondern, ganz im Gegenteil, wenn er sich beschränkt und präzise aus dem Zusammenklang der Instrumente Charaktere herausarbeitet. Genau das tut er in Le Journal de Sisyphe (2003/05). Dieses Saxophonquartett ist ein Tagebuch ebenjener zum Scheitern verurteilten Sinnsuche im Immanenten, die das menschliche Leben ausmacht. Der erste Tag bringt eine dichte Textur enger mikrotonaler Akkorde, die immer wieder neue Impulse, gewaltsame Entladungen und Klangbrechungen erfährt. Die Sinnentleertheit spiegelt sich in der Abwesenheit grosser Bewegung und Entwicklung wider, an deren Stelle eine immer tiefer gehende Binnendifferenzierung tritt. Der darauf folgende Tag vibriert von unterdrückter Nervosität. Die innere Unruhe lässt das Quartett immer wieder zu den Auswüchsen des Sinnverlangens aufsteigen, umso jäher stürzt es ins Leere. Anderntags vereitelt ein kollektiver Puls, unerbittlich ortschreitend, jeden Ausbruch von Individualität. Jeder Satz bringt eine neue Seite des absurden Kampfes ans Licht. Das lebendige und präzise Zusammenspiel der 4tenors macht die Spannung von Martis existentialistischem Trotz gegen das Sinnlose erlebbar.
Dieser Artikel ist in DISSONANCE 113 (März 2011) erschienen.