Dissonance

Forschung. Jahrbuch Nr. 4/2009

Hochschule der Künste Bern (Hrsg.)
Bern: Eigenverlag 2009, 288 S.

Kunst und künstlerische Forschung.
Art and Artistic Research.

Zürcher Jahrbuch der Künste 6 (2009)
Corina Caduff, Fiona Siegenthaler, Tan Wälchli (Hrsg.)
Zürich: ZHdK/Scheidegger & Spiess 2010, 448 S.

Björn Gottstein

Vielleicht ist mit diesem einen Buchcover auch schon alles gesagt. Vorder- und Rückseite des Bandes schmücken die berühmte Pfeife von René Magritte und zwei Versionen eines Titels: «Gibt es Kunst ohne Forschung?» bzw. «Gibt es Forschung ohne Kunst?» Magrittes Zusatz, «Ceci n’est pas une pipe», fehlt, wird aber natürlich mitgedacht und infolge der beiden Buchtitel zu einer epistemologischen Irritation, die ahnen lässt, dass die Kunst wohl einen anderen Zugang zu Wissen und Gewissheiten gewährt, als die herkömmliche, wissenschaftliche Forschung es tut.

Cover Jahrbuch HKB 2009

Das Jahrbuch der Berner Hochschule der Künste ist eine von zwei jüngst erschienenen Veröffentlichungen, die sich dem Thema Kunst und Forschung widmen, gemeinsam mit dem Jahrbuch der Zürcher Hochschule der Künste, das unter dem Titel «Kunst und künstlerische Forschung/Art and Artistic Research» erschienen ist. In theoretischen Ausführungen und anhand konkreter Projekte wird da der Frage nachgegangen, inwiefern künstlerische und wissenschaftliche Produktion einander beeinflussen und beide zum Wissensfundus der modernen Gesellschaften beitragen.

 

Die Frage öffnet natürlich eine Reihe von historischen und theoretischen Perspektiven, die viel mit dem gesellschaftlichen Stellenwert der Kunst und der Wissenschaft zu tun haben und die gleichzeitig einen eigenen, ungewohnten Zugang zur Geschichte der Künste eröffnen. Das kann von der künstlerischen Darstellung wissenschaftlicher Sujets über die Nachahmung eines wissenschaftlichen Experiments bis hin zu im künstlerischen Kontext ausgearbeiteten Forschungsprojekten reichen. Systematisch hat Florian Dombois die möglichen Verhältnisse zwischen den Disziplinen aufgeschlüsselt, indem er Kunst und Forschung durch die Präpositionen «über», «für» und «durch» in Beziehung zueinander setzt: Kunst über Forschung, Forschung über Kunst, Kunst für Forschung usf. Die gegenseitige Durchdringung der beiden Bereiche lässt sich in Leonardo da Vincis wissenschaftlichen Zeichnungen beobachten, in Johann Wilhelm Ritters physikalischen Experimenten, Buck-minster Fullers Entwürfen bis hin zum Technologietransfer, der Yamaha in den fünfziger Jahren vom Klavierbauer zum Motorradhersteller werden liess. Auch in der Musik lassen sich zahlreiche Beispiele finden, die einen engen Bezug zur Wissenschaft und zum Habitus des Forschers herstellen: Kompositionen wie Heinz Holligers Voi(es)x métallique(s) oder Roland Mosers Oszillation und Figur (Aus den Ritterfragmenten), aber auch die Installationen von Carsten Nicolai, die auf berühmte Experimente von Ernst Chladni und Nikola Tesla zurückgehen. Die Arbeit im elektronischen Studio ist per se forschungsorientiert, und das Wort «recherche» ist fest im Namen des IRCAM verankert. Aber natürlich hat nicht nur eine wissenschaftlich ausgerichtete Kunst Forschungscharakter, so-fern alle Kunst unseren Erfahrungshorizont weitet und Wissen generiert. Die Texte der beiden jetzt erschienenen Bände gehen diesen Fragen nach. Wodurch unterscheidet sich ein Konzeptstück von Alvin Lucier von einem psychoakustischen Experiment, fragt zum Beispiel Germán Toro-Pérez, um Unterschiede in der Zielsetzung, dem Selbstverständnis der Urheber und dem Erfahrungshorizont der Rezipienten zu benennen.

 

Nun ist das gegenwärtige Interesse am Zusammenhang zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Produktion kein Zufall. Sowohl die Berner als auch die Zürcher Veröffentlichung geht auf den 1999 initiierten Bologna-Prozess zurück und den damit einhergehenden Versuch, das europäische Hochschulwesen zu vereinheitlichen. Die Kunsthochschulen stehen gegenwärtig vor der Aufgabe, Kriterien für eine wissenschaftliche Promotion im künstlerischen Bereich zu entwickeln. Da liegt eine Auseinandersetzung mit dem Thema nahe. Gleichzeitig gehen mit solchen Forschungsprojekten eine Reihe attraktiver Fördermöglichkeiten einher, so dass die wissenschaftlichen Ambitionen der Kunst auch eine Frage der Verteilung öffentlicher Gelder sind. Viele der hier versammelten Texte diskutieren deshalb institutionelle Aufgaben und Probleme, die viel mit der täglichen Hochschulpraxis und nicht immer etwas mit ästhetischen Fragestellungen zu tun haben, zum Beispiel ob der Künstler auch eine schriftliche Darlegung einzureichen hat, die sein Verfahren schildern und seine Ergebnisse zusammenfassen, um dem Forschungsanspruch gerecht zu werden. Gleichzeitig merkt man den Texten an, dass ihre Autoren dem Nimbus des Neuen, nie Dagewesenen erliegen. Das Feld der «künstlerischen Praxis als Forschung» ist eine noch junge Disziplin, die sich im deutschsprachigen Raum erst allmählich etabliert und auch in anderen Ländern noch längst nicht zu Ende gedacht worden ist. Es herrscht also noch ein gewisses theoretisches Vakuum, das die hier versammelten Autoren schliessen zu dürfen glauben, indem sie mit ihrer in Selbstermächtigung verliehenen Definitionsmacht die Grundlagen der neuen Disziplin schaffen. Da nun aber die Idee eines forschenden, Wissen generierenden Künstlers keineswegs neu ist, sondern in der Philosophie sowie in den Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften hinlänglich diskutiert wurde, laufen viele der hier angestellten Überlegungen ins Leere. Man muss die Epistemologie nicht nur nicht neu erfinden, man kann es gar nicht, weil es sie schon gibt. Zwar sind im Zürcher Jahrbuch die Ausführungen über Heidegger (Toro-Pérez) und Danto und Hegel (Henk Borgdorff) durchaus interessant, aber sie reichen nicht hin, um eine eigenständige Disziplin zu etablieren. Es ist durchaus bezeichnend, dass die Autoren jene Fächer, die der neuen Disziplin am nächsten stehen, Geisteswissenschaften nämlich, meiden. Man grenzt sich hier meist vom naturwissenschaftlichen Forschungsbegriff ab und stellt dem Positivismus andere Erkenntnismöglichkeiten der Kunst gegenüber, ohne die komplexeren Methodendebatten der Geisteswissenschaften zu berücksichtigen. Gelegentlich werden Seitenhiebe gegen die Geisteswissenschaften laut, die, so schreibt Johan Öberg zum Beispiel, ja zu «Literatur-Performern» heruntergekommen seien: «Oder ist diese Sicht zu pessimistisch und die Geisteswissenschaftler können es sich doch noch erlauben, über Kunst nachzudenken?» Marcel Cobussens an sich banale Bemerkung, dass wissenschaftliche Forschung nicht nur den Laborbiologen meint, sondern auch den im Feld forschenden Ethnologen oder die Bibelexegese eines Theologen, wirkt in diesem Kontext wie eine Offenbarung. Es ist also durchaus noch viel zu leisten, bis die Praxis der künstlerischen Forschung auch in der Theorie ihren Ort zwischen den Disziplinen gefunden hat.

 

Die Veröffentlichung der Zürcher Hochschule geht auf ein Symposium zurück und versammelt 18 Aufsätze und einen Fotoessay, die das Thema von ganz unterschiedlichen Seiten her angehen. Ganz anders der Berner Band, dem es um eine Darstellung eigener Forschungsprojekte geht. Hier wird deutlich, wie unterschiedlich die Ansätze ausfallen können, die von Vorhaben über historische Musikinstrumente oder das Verhältnis zwischen Körper und elektronischen Musikinstrumenten reichen bis hin zu weitgehend kunstfremden Themen wie den «Präventionsmassnahmen der Trinkwasserqualität in Vietnam» oder der «optischen Gestaltung der Schnittfläche von portioniertem Käse». Die Projektdarstellungen erschöpfen sich in allerdings arg kurzen Darstellungen, die dem Leser bestenfalls eine Ahnung vom Erkenntnishorizont vermitteln. Eine anregende Ausnahme sind da die zahlreichen Sonifikationsprojekte, die dem Leser auch unter www.sonifyer.org zur Verfügung stehen. Hier werden Beispiele an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaftsalltag vorgestellt, wozu sowohl das Abklopfen eines Käselaibs oder kranker Fichten gehört als auch Musikstücke, die die in wissenschaftlichen Erhebungen gewonnenen Klangdaten als Material verwenden. Hier hat man dann auch das Gefühl, dass der Bereich der künstlerischen Praxis als Forschung kein Theoriegebäude braucht, sondern Projekte, die die Bereiche Kunst und Wissenschaft auf an- und aufregende Weise miteinander verbinden.

 

 

Dieser Artikel erschien in der DISSONANCE 110, Juni 2010, S. 90-91.

by moxi