Dissonance

Gary Berger: ctrl + alt + delete

Optical Noise (Design, Video), Sascha Armbruster (Saxophon)
ZHdK Records 20/09 (1 DVD)

Stefan Drees

Gary Berger: ctrl+alt+delete

Simulierte Wirklichkeiten: Fragmente aus der Bildschicht von «ctrl + alt + delete». Foto: Pro Litteris

Zu Beginn sieht man einzelne Augen, die einen vom dreigeteilten Bildschirm her anstarren, in unregelmässigen Abständen ein- und ausgeblendet, zunächst schwarz-weiss und dann in Farbe. Dazu erklingt ein tiefes, elektronisches Vibrieren, das zu einem immer dichteren Klanggebilde anwächst und anschliessend Frequenzwechseln und Filterprozessen unterzogen wird. Scheinbar unspektakulär kommt diese DVD daher, indem sie Elemente kombiniert, die man eigentlich zu kennen glaubt. Doch das Zusammenwirken dieser Schichten erzeugt Irritation, weil es unvorhersehbar bleibt und sich gedanklich nicht fassen lässt, sich gewissermassen der Sinngebung durch den hörenden Betrachter oder betrachtenden Hörer entzieht. Mit dem Titel dieser Arbeit, ctrl + alt + delete, ist zunächst einmal ein Tastaturbefehl aus dem Bereich der Softwarenutzung umschrieben, der in vielen Anwendungen das Löschen eines gesamten Wortes links vom Cursor nach sich zieht: ein Akt, der im schlimmsten Falle zur Entstellung einer Textaussage führen kann. Überträgt man diesen Vorgang auf eine metaphorische Ebene, kommt man den Intentionen des Hör-Seh-Stücks näher, denn es geht um das Auslöschen von Referenzen und um die Frage, inwieweit etwas zur Erkenntnis beitragen kann, wenn wir es nur noch in Gestalt von Fragmenten wahrnehmen, deren semantische Zuordnung unsicher bleibt – oder aber umgekehrt: ab wann ein Wahrnehmungsmuster zum Zeichen und damit zum symbolischen Repräsentanten einer realen oder von uns konstruierten Gegebenheit werden kann, wenn es uns nur unvollständig entgegentritt.

 

Der intermediale Dialog von Ton und Bild, der sich mit dieser essenziellen Frage auseinandersetzt und eine ästhetische Antwort darauf zu formulieren sucht, stammt von Gary Berger (Konzeption und Musik/Komposition), wurde unter Mitwirkung von Optical Noise (Design und Video) und Sascha Armbruster (Saxophon) realisiert und erhält zudem im Booklet einen präzise formulierten Kommentar aus der Feder der Literaturwissenschaftlerin und Kulturjournalistin Bettina Spoerri.

 

Und was den Beginn des Werkes ausmacht, wird in verstärktem Masse erfahrbar, wenn man dem Verlauf weiter folgt: Da tauchen weisse Felder und irreguläres rhythmisches Pulsieren, graue Schlieren und Einsprengsel instrumentaler Klänge auf – all dies wird ineinander geschoben und zu einer Wahrnehmungseinheit verbunden, in der sich die einzelnen Elemente wiederum gegenseitig behindern, verstärken, auslöschen können … Doch irgendwann ist in diesem ständig auf Veränderung bedachten Panorama der Moment erreicht, in dem sich aus all den Fragmenten neue Sinnzusammenhänge bilden: wenn die Slapsounds des Saxophons in Kongruenz zu den Bildaufbauten treten, wenn ein mikrotonaler Klangaufbau sich zu etablieren beginnt, wenn aus den Bildfragmenten plötzlich symmetrische Bildstrukturen herauswachsen, die sich wiederum in musikalischen Pulsen und Loops zu brechen scheinen. Dann entsteht plötzlich der Eindruck einer simulierten Wirklichkeit, bestehend aus Vervielfältigungen, die zu Strukturen zusammenwachsen, in denen etwas Erinnertes repräsentiert wird, auch wenn dies seltsam verfremdet erscheint.

 

Es ist faszinierend, was diese hochgradig experimentelle Arbeit uns über unsere Wahrnehmung verraten kann, wenn man sich tatsächlich auf sie einlässt, wenn man die Reaktionen auf das Klang-Bild-Geflecht als Erkenntnisprozess betrachtet, hinter dem sich ein Bild von unserer Konstruktion der Wirklichkeit verbirgt. Mit rund 31 Minuten ist ctrl + alt + delete zwar recht knapp, doch wirkt das Stück dafür letzten Endes umso nachhaltiger: weil es nämlich durchweg mit einem Grad von Subtilität arbeitet, den andere intermediale Klang- Bild-Produktionen oft nicht oder nur unter Mühen erreichen.

 

Dieser Artikel erschien in der DISSONANCE 110, Juni 2010, S. 97.

by moxi