NUANCEN IM WEISSEN
Der Improvisator, Interpret, Klangkünstler und Komponist Roland
Dahinden
VON THOMAS MEYER
Das innere Auge stelle sich eine Gruppe einzelner frei stehender Felsen oder
Felsbrocken vor, die in einem begrenzten Raum angeordnet sind, etwa so, wie
es der Land-Art-Künstler Richard Long auf der Silberen im Muotathal tat, oder
vielleicht in der Art eines keltischen Steinkreises. Dabei lasse das innere Auge
aber alles Stimmungsvolle, bedeutsam Magische und Esoterische weg, alle
Druiden und Zauberinnen, bitte auch alle Sonnenuntergänge und
Nebelschwaden. Das Licht muss für diese Betrachtung möglichst klar sein.
Diese ruhig dastehenden Steine, an ihrer Oberfläche reich beschaffen und
strukturiert, individuell wie ein Ton, ergeben mit den Räumen dazwischen, mit
Leere und Stille, ein erstes Bild, ein Ensemble von Stein und Zwischenstein.
Mit dem Nachdenken über diese zwischensteinlichen Beziehungen merkt die
Vorstellung bald, dass es sich dabei ja keineswegs um ein zwei-, sondern um
ein dreidimensionales, also ein räumliches Gebilde handelt. Deshalb beginnt das
innere Auge langsam um dieses Steinensemble herumzugehen. Die
Konstellation der Steine zueinander, die Zwischenräume, aber auch die Ansicht
der einzelnen Steine verändert sich dabei allmählich und mehr noch: Auf
einmal wird vielleicht ein Stein sichtbar, der zuvor von einem anderen verdeckt
wurde. Damit ändert sich das Bild wesentlich, das Auge muss anfangen, sich
diese Gruppe von Steinen neu zu denken, ja: denken, denn als Ganzes lässt sie
sich nicht überblicken, nicht «wahr»-nehmen.
Ohne diesen Vergleich zu strapazieren, kann man ihn doch in gewisser Weise
auf Stücke von Roland Dahinden übertragen. In Stücken wie jenem etwa mit
dem Titel lichtweiss für Vibraphon solo werden solche Ensembles von Tönen
nebeneinander gesetzt. Jeder der vier Sätze baut auf einem feinen Unterschied
auf: I und III auf dem unterschiedlichen Anschlag mit hartem oder weichem
Schlägel, II auf dem Gegensatz von gestrichenem und geschlagenem Klang, IV
auf dem von einer lauten und einer sehr leisen Schicht. Diese
Klangdifferenzierung staffelt den Klang im Raum. Sie ist aber erst die äussere
Anlage. Was darüber hinaus oder besser: im Inneren geschieht, lässt sich sehr
schön am zweiten Stück aufzeigen. Über viereinhalb Minuten entfaltet sich hier
eine harmonisch homogene Klangwelt. Die mit dem Bogen angestrichenen
Töne bewegen sich nur zwischen e' und f'. Diese beiden Tonhöhen finden sich
auch unter den geschlagenen Tönen. Darunter kommt ein fis zu stehen, darüber
die jeweils wechselnden d''/dis'' und noch höher c'''/cis'''. So wird über
zweieinhalb Oktaven mit sieben Tönen ein Septimenklangraum ausgespannt,
der in sich zu ruhen scheint. Es ist eine harmonische Ordnung, die auch ohne
tonales Zentrum erkennbar bleibt, die sich «gesetzt» hat. Wenn sich nun nach
eben knapp viereinhalb Minuten zunächst der Ton gis' und gleich darauf auch
noch ein g'' einmischt, ist das ebenso fein wie einschneidend. Sehr schnell
gerät in der Folge das etablierte Tongefüge in Unordnung, freilich ohne
unruhig oder gar instabil zu wirken. Die Grundachsen bleiben, wie sich am
Schluss zeigt, aber das harmonische Farbspektrum hat sich erweitert und leicht
gedreht.
Ähnliche Prozesse sind auch in den anderen Sätzen zu verfolgen, wobei das
Wort «Prozess» bereits in eine falsche Richtung zeigt. Weder ist das Vorgehen
rücksichtslos kalkuliert, noch entsteht das Resultat aus einem schleichenden
minimalistischen Prozess. Die harmonischen Erweiterungen sind ebenso
unspektakulär wie überraschend. In lichtweiss I gibt es gleich mehrere solcher
Momente, in denen ein einmal gefundenes und «sich setzendes» harmonisches
Feld (das sogar von Ferne an eine Webernsche Tonkonstellation erinnern mag)
aufbricht und sich erweitert. Selten wird so sinnfällig, wie sehr Harmonik in
der Musik mit Raum verbunden ist. All das geschieht mit geringstem
Energieaufwand und erreicht doch grösste Wirkung. Die Kraft des
«Fremdlings», des eindringenden Tons, wird vom Ohr sogleich umgelenkt und
ins harmonische Feld überführt und so kann das Spiel aufs Neue beginnen.
Komplexer in der Anlage und doch ebenso unmittelbar nachvollziehbar (zumal
nach den Hörerfahrungen aus den ersten beiden Stücken) ist lichtweiss III. Das
letzte Stück schliesslich, das kürzeste von allen, geht einen anderen Weg und
gewinnt dem Einfärben der Klänge nochmals eine weitere Facette ab. Die hart
und laut angeschlagenen Klänge (Akkorde oder Tonfolgen) werden dadurch
moduliert, dass einzelne Töne daraus in der Lautstärke des Nachhalls, also
leisest, nachgespielt werden. Dadurch werden einzelne harmonieeigene Töne
hervorgehoben, zum Teil auch durch Oktaven. Aber auch hier werden wieder
«fremde» Töne eingeschoben, die von den Grundklängen abweichen, dadurch
hervorstechen und diese zart einfärben. Hören wird zu einem Nachlauschen des
Einzelnen. Es gibt darin kein System, keine Logik des Gehirns. Das Hören
(auch des Komponisten) ist in diesem Fall ein Entdeckungsprozess, ein
Hinhören in feinste Nuancen. Das hat nichts mit Vorwissen zu tun, nichts mit
Intellektualität und übrigens auch nicht, wie manche vermuten werden, mit
Didaktik, sondern viel eher mit Ruhe und dem Sich-Einlassen auf Töne.
Der Titel lichtweiss bezieht sich übrigens auf visuelle Kunst, auf Bilder der
österreichischen Malerin und Photographin Inge Dick. Auch das eine Analogie,
die es nicht zu strapazieren gilt. Die österreichische Künstlerin Inge Dick ist
besessen vom Monochromen. In Bildserien spürte sie dem Bleu du Ciel nach
oder in Ein Tages Licht Weiss den Farbwandlungen des 13. Juni 1996 durch
Polaroids von 5.07 bis 20.52 Uhr. So hat sie auch eine Serie von ganz weissen
Bildern gemalt, die auf den ersten Moment nur ein ungemeine nuancierte
weisse Oberfläche präsentieren. Weiter geben sie zunächst nichts her. Es bedarf
des längeren Betrachtens und vor allem des Lichteinfalls, damit sich in diesem
Lichtweiss eine gelbliche, bläuliche oder grünliche Schattierung oder Färbung
offenbart, die unendlich fein ist, dem Bild aber seine Tiefe verleiht.
Solche «Entwicklungen», die dem Betrachten einer fein strukturierten
Oberfläche oder eben jenem Gang um eine Steingruppe vergleichbar sind,
finden sich häufig im kompositorischen Schaffen des Zuger Komponisten und
Posaunisten Roland Dahinden. silberen für Klavier und Streichquartett etwa ist
in 21 «Movements» gegliedert, und trefflich liesse sich das für einmal nicht mit
«Satz», sondern wörtlich mit «Bewegung» übertragen. Jedes Mal in einer
wechselnden instrumentalen Besetzung wird ein Klangmaterial von
verschiedenen Seiten betrachtet, so als gehe man um eine Skulptur. Jedes
«Movement» ist klar umrissen und im Innern offen: ein Moment, geprägt von
den Instrumenten, dem Klavier, das seine Töne in den Nachhall des offenen
Pedals setzt, und dem Quartett, das seine Klänge modulieren kann. Die
Streicher schaffen einen Innenraum zum weiten Klangraum des Klaviers. Das
einzigartig sanfte, matt-silberne Leuchten ihrer Klänge changiert zuweilen in
den Farben des Flageoletts, des sul ponticello, und gelegentlich scheint gar im
Übergang zu einem poco vibrato noch ein letzter Rest romantischen Espressivos
auf.
Denn so ruhig diese Musik aufs erste wirken mag, so wechselvoll, ja zuweilen
fast aufs feinst-rastlos ist sie im Innern. Sie entwickelt sich nicht schematisch,
sie ist auch da offen. Sie ist fern aller Betulichkeit des Pseudomeditativen, sie
weidet den Moment nicht kontemplativ aus, sondern unaufhaltsam dreht sich
die Skulptur vor unseren Ohren. Und die Musik versinkt nicht in Melancholie.
Oft genug wird man vom bereits einsetzenden nächsten Klang überrascht und
von einer Klangmodulation entführt. Das Changieren geschieht oft nicht nur
rasch, sondern auch unregelmässig. Das Ohr erhält nicht die Gelegenheit, sich
zur Ruhe zu setzen, es kreist immer wieder um die Töne und nimmt mit jeder
«Bewegung» einen anderen Hörwinkel ein.
Mit diesen Beispielen sind schon wesentliche Charakteristika genannt, die in der
Musik von Roland Dahinden immer wieder auftauchen: Das ruhige Setzen von
Tönen, gleichzeitig aber das Modulieren, das Modellieren dieser Töne, die
Stille dazwischen, die Klarheit des «Lichts» (diese Musik hat nichts Diffuses),
die Erweiterung ins Räumliche, die langsamen, «minimalistischen»
Entwicklungen, überhaupt: die unentwegte Beharrlichkeit, die diese Musik
bestimmt und die unsere Wahrnehmung formt und sie vertieft. Die
Wahrnehmung, das Hören ist mitbedacht in der Komposition.
Dahinter steht eine reiche Erfahrung, die sich aus verschiedenen Quellen speist.
Zum einen ist da die Tätigkeit des Interpreten Roland Dahinden, der vor allem
zusammen mit seiner Frau, der Pianistin Hildegard Kleeb Musik von John
Cage, Christian Wolff, Morton Feldman, Pauline Oliveros oder Peter Ablinger,
Hauke Harder, Maria de Alvear, Hans Otte und anderen aufgeführt hat.
Zum anderen wurde Roland Dahinden stark von der Zusammenarbeit mit
bildenden Künstlern geprägt: Andreas Brandt, Sol LeWitt, Inge Dick, Philippe
Deléglise, Daniel Buren etwa, und von da her ist auch schon verständlich,
warum Roland Dahinden gern mit Räumen arbeitet, warum er von
Klangskulpturen spricht. Selbst ein einzelner Ton ist für ihn ein vielschichtiges,
räumliches Gebilde.
Dieses Modellieren des Tons ist drittens beim Instrumentalisten Roland
Dahinden zu hören, der auf der Posaune, aber auch auf dem Alphorn seine
Töne formt und dabei seine Aufmerksamkeit etwa auf die Ein- und
Ausschwingvorgänge hin richtet. Das ist es auch, was er kürzlich in Willisau
beim amerikanischen Saxophonisten und Klarinettisten Anthony Braxton
bewunderte: die Differenziertheit des modellierten Tons.
Braxton wurde für ihn aber auch als Lehrer an der Wesleyan University
wichtig, denn er bewegt sich viertens wie Dahinden auf der Grenze von
Improvisation und Komposition. Braxton hat diese Übergänge auf verschiedene
Weisen ausgelotet und wichtige Fragen gestellt: Wie lässt sich Form
vorbestimmen und doch offen halten? Wer übernimmt in der Freiheit die
Verantwortung? Wieviel Freiheit darf man in der Komposition lassen? Das war
für den Improvisator Dahinden wertvoll, spielt aber selbst noch in seine
Kammermusik hinein, die sehr genau ausgearbeitet ist, aber nicht übergenau,
denn Roland Dahinden möchte die Interpreten seiner Werke nicht übermässig
einschränken, sondern ihnen einen möglichst grossen Gestaltungsspielraum
lassen. Das ist auch ein politisches Statement.
Und schliesslich ist hier fünftens der zweite Lehrer an der Wesleyan
University zu nennen: Alvin Lucier, ein Spezialist für Wahrnehmungsprozesse,
etwa dafür, besondere physikalische und biologische Effekte mit künstlerischen
Mitteln zu verbinden. In einem Stück etwa, den Wind Shadows, muss die
Posaune zu einem Klang ab Lautsprecher minime Tondifferenzen setzen was
zu grossen Klangschwankungen, zu Schwebungen, ja zu Rhythmen führt. Eine
Aufgabe übrigens, die der Posaunist Roland Dahinden mit Bravour löst.
Dahinden selber teilt sein kompositorisches Oeuvre in drei Kategorien ein: in
konzertante Werke, in Klanginstallationen und in Klangskulpturen. Die
«concert works», die konzertanten Werke also, sind für die uns allen vertraute
Podiumssituation geschaffen. Die Situation wird komplexer, wenn Live-
Elektronik in diese «concert works» hineinspielt und die Klangschichten
erweitert, ja eben auch verräumlicht.
Daneben gibt es die Klanginstallationen, «sound installations», die oft in
Zusammenarbeit oder in der Begegnung mit bildenden Künstlern entstehen.
Musikalisch gesehen haben diese Installationen weder Anfang noch Ende, sie
kreisen gleichsam im Raum, werden selber zu einem Raum. Sie sind offen
gestaltet.
Die Klangskulpturen schliesslich , die «sound sculptures», verbinden diese
beiden Bereiche. Eine Installation und eine konzertante Aufführung, die
vielleicht zeitlich und räumlich getrennt sind, sich aber doch aufeinander
beziehen, treten nebeneinander. Das Ohr kann sie nicht in der Gänze
wahrnehmen. Wie beim eingangs beschriebenen Steinensemble oder auch bei
einer x-beliebigen Statue setzt sich das Werk gleichsam in der «Erinnerung»
zusammen. Wir glauben, ein Ganzes erfahren zu haben, obwohl sich dieses
Ganze Teilansichten zusammensetzt, wir denken es uns.
Daraus ergibt sich konsequenterweise: Dahindens Musik versucht
herkömmlichen dramatischen Konzepten zu entkommen, sie will uns nicht
bestimmen, sondern unsere Aufmerksamkeit, unsere Wahrnehmung öffnen. Sie
lädt uns ein. Verglichen mit einer Zeichnung heisst das: Es ist nicht so, dass ich
einen Strich ziehe, weil ich daraus etwa ein Gesicht formen will, sondern ich
ziehe eine Linie und folge ihr. Mit aller Aufmerksamkeit. In den Bildern des
Zuger Künstlers Josef Herzog etwa ist dies zum Beispiel zu erleben: ein
Liniengewirr, das auf den ersten Blick etwas zufällig erscheint. Bis man
dahinter kommt, dass diese Linien nicht einfach aufs weisse Blatt geworfen
sind, sondern dass sie sich selber entwerfen im Moment ihrer Entstehung.
Solche komponierte Improvisation / improvisierte Komposition findet man
etwa in Dahindens Stücken Free Lines. Womit auch die Verbindung zur
Improvisation hergestellt wäre.
Und von da her wird auch klar, dass Dahindens Musik nicht streng
vorgegebenen Strukturen serieller Art etwa folgt, ebenso wie sie sich nicht
zu eng an jene visuellen Vorlagen klammert, von denen sie angeregt sein mag.
Die Klangebene ist etwas Eigenes, Eigenständiges. Sie lässt sich nichts
diktieren. Sie hat ihre eigene Logik. Dazu wähle ich aus der Unmenge des
Zitierbaren eine Bemerkung von Paul Cézanne: «Es gibt eine Farbenlogik,
parbleu, der Maler muss ihr gehorchen, nicht der Logik des Gehirns. Wenn er
sich an diese verliert, ist er verloren. An die Augen muss er sich verlieren. Die
Malerei ist eine Optik, der Inhalt unserer Kunst liegt primär in dem, was unsere
Augen denken.» In diesem Fall wäre vom den Denken der Ohren zu sprechen.
Biographie:
Roland Dahinden wurde 1962 in Zug geboren. Er studierte Posaune und
Komposition, zunächst an der Musikhochschule in Graz bei Erich Kleinschuster
und Georg Friedrich Hass und bei Vinko Globokar an der Scuola di Musica in
Fiesole. Von 1992-95 war er Assistent von Alvin Lucier und Anthony Braxton
an die Wesleyan University in Connecticut. 2002 schloss er ein PhD Program
bei Vic Hoylund an der Birmingham University (GB) mit dem Doctor of
Philosophy in Music ab. Seit 1987 spielt er mit seiner Frau der Pianistin
Hildegard Kleeb im Duo und seit 1992 mit dem Geiger Dimitrios Polisoidis im
Trio. Er arbeitete mit bildenden Künstlern wie Andreas Brandt, Stéphane
Brunner, Daniel Buren, Rudolf de Crignis, Philippe Deléglise, Inge Dick,
Rainer Grodnick, Sol LeWitt, Lisa Schiess, den Architekten Morger & Degelo
und dem Dichter Eugen Gomringer zusammen. Seit fünf Jahren lebt und
arbeitet Roland Dahinden zusammen mit Hildegard Kleeb und ihren beiden
Töchtern Anna und Luisa wieder in Zug. Kürzlich wurde er mit dem
«Werkjahr» der Kulturdirektion des Kantons Zug ausgezeichnet.
Im Sommer ist beim Label mode eine CD herausgekommen, auf der das Arditti
Quartet, Hildegard Kleeb und Roland Dahinden die Navigations und Small
Waves von Alvin Lucier interpretieren, und demnächst erscheint dort die CD
silberen mit dem gleichnamigen Stück für Klavierquintett sowie mit lichtweiss
für Vibraphon solo von Roland Dahinden.
www.roland-dahinden.ch
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