FORMEN VON MUSIKTHEATER
Zwei neue Musiktheaterwerke: Beat Furrers «invocation» in Zürich, Klaus Langs «die perser» in Aachen Die musikalischen Fehler seien die schlimmsten, meinte Marguerite Duras einmal zu ihrem eigenen Schreiben: Wichtig sei ihr, dass die Perioden ihrer Sätze stimmen, dass die Schlüsse bewusst gesetzt sind, dass Melodie und Rhythmus eine gewissermassen musikalische Sprachqualität besitzen. «Um Musik ging es in jedem Satz, […] um den betörenden Sound einer <Lauterotik>», so hat es die Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa bei ihrer ersten Begegnung mit Texten von Duras empfunden, und in ihrer eigenen Arbeit, so auch bei der Einrichtung des Librettos zu Beat Furrers Musiktheater invocation, hat sie dies ganz offensichtlich zu berücksichtigen vermocht: «Fang an. Fang noch mal an, hab ich gesagt. / Das Kind rührte sich nicht. / Das Rauschen des Meeres legte sich über sein Schweigen. / Nichts.» So lautete in Rakusas Übersetzung von Duras' Roman Moderato cantabile der Beginn des Librettos, mit der Furrers Oper hätte beginnen sollen. Man kann diese Sätze als Musik nehmen, so die Modulation zwischen den jeweils vorherrschenden Vokalen «a» und «i» von der ersten zur zweiten Zeile, die Einführung des trochäischen
Rhythmus «rührte sich» und die Korrespondenz zum folgenden Satz («legte sich»),
schliesslich das kadenzierende «Nichts». Immer wieder zeigt Rakusas Sprache
solch ausgeklügelten Sound, und insofern ist es bedauerlich, dass in der
Zürcher Uraufführung von Furrers invocation spät – offenbar erst im Laufe
der Inszenierungsarbeit – doch wieder auf die übliche Übersetzung des
Romanes durch Gescher und Guggenheimer zurückgegriffen wurde. (Anders als in den Ankündigungen fehlt im Programmbuch konsequenterweise
auch der Name Rakusas.) «Fang an. Fang noch mal an, hab ich gesagt.
Das Brausen des Meeres stieg ins Schweigen», lautet nun die entsprechende
Stelle, die zwar von den Vokabeln her näher am Original liegen mag, nicht allerdings in ihrem intendierten Sprachklang, und schon beinahe sind es ungelenke Formulierungen: Von einem Bewusstsein für die eigentümliche Musikalität von Duras' Sprache jedenfalls ist hier wie auch an anderen Stellen nur selten etwas spürbar. Schon längst ist mit diesen Gedanken über die rhythmischen und melodischen Qualitäten von Sprache auch von der Musik Beat Furrers die Rede. Denn gerade die jüngsten Werke des in Schaffhausen aufgewachsenen, seit rund dreissig Jahren in Österreich lebenden Komponisten besinnen sich – nicht unwesentlich angeregt durch die Musik Salvatore Sciarrinos, die Furrer oft dirigiert hat – auf den eigentümlichen Reiz gesprochener Sprache: Bereits im Musiktheater Begehren, vor wenigen Monaten in Graz szenisch uraufgeführt, war dies spürbar, verstärkt noch hat sich dieser Zug in invocation nach Duras' Roman Moderato cantabile, ein Auftrag des Zürcher Opernhauses, der nun in der Schiffbauhalle und in einer Inszenierung des dortigen Hausherrn Christoph Marthaler seine Uraufführung erlebt hat. Zentrum sowohl des Romans wie auch der Oper – man kann invocation getrost so nennen – bildet ebenfalls eine vokale Kundgabe: ein Schrei. Es ist der Schrei, den die Protagonistin Anne Desbaresdes von draussen in das Musikzimmer, worin sie mit ihrem Kind eine Klavierstunde besucht, dringen hört. Eine Frau ist, draussen, von einem Mann getötet worden, es heisst, sie habe es von ihm verlangt. Anne kehrt, von einem inneren Trieb angestachelt, in den folgenden Tagen immer wieder an den Tatort zurück, begegnet dort, in einem Strassencafé, einem Gegenüber, Chauvin, mit dem sich das Ereignis zu wiederholen scheint: Am Ende entfährt auch ihr ein Schrei, die Distanz zwischen dem eigenen und dem fremden Schicksal droht zu schwinden. Schon bei Duras war diese Handlung, wenn man sie denn so nennen will, nicht streng linear erzählt, in Furrers invocation wird sie stärker noch nicht- narrativ umkreist. Trotz des Verlustes musikalischer Sprachqualität im Rückgang auf die gängige Übersetzung ist der grosse Rhythmus von Duras' Sprache auch im jetzigen Libretto erhalten geblieben: Gerade die syntaktische Kürze und Prägnanz, die Tendenz zur Elliptik, schliesslich der fragmentarische Charakter des Textes mochte Furrer in besonderer Weise interessiert haben: Nicht nur hat solche Sprache einige Verwandtschaft zu Furrers eigenem Komponieren, die elliptischen Gräben zwischen den Sätzen erlauben es ihm auch, anderes zwischen ihnen aufscheinen zu lassen: Einerseits sind es Texte weiterer Autoren – Ovid, Juan de la Cruz, Cesare Pavese, eine orphische Hymne –, die als Einschübe eine Perspektive abgeben wollen auf Duras' Romanhandlung, andererseits wird gleichsam als Interpretationsmuster ein philosophischer Entwurf herangezogen – genauer vielleicht gar: Das nach künstlerischem Ausdruck drängende philosophische Konzept hat sich einen Text gesucht und ist dabei auf Duras' Moderato cantabile gestossen. In der Tat ist es bemerkenswert, wie sehr die Motive des Romanes eine Deutung erfahren können an der Leitlinie der Philosophie Georges Batailles, zumal von dessen Theorie der Religionen, auf die sich Furrer explizit bezieht. Um dies deutlich zu machen, ist ein kürzerer Exkurs notwendig. Batailles Denken ist gross geworden im Umfeld der Bewegung der Surrealisten im Paris der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Er entwickelt dabei den Begriff des «Heterogenen», womit er all jenes benennt, was sich der Assimilation an bürgerliche Lebensformen und an die Routinen des Alltags entzieht: die ekstatischen Kräfte des Rausches, des Trieblebens, des Traumes, schliesslich des Heiligen, Sakralen, wobei er letzteres – durchaus in Verwandtschaft zu Nietzsche –
streng atheistisch denkt. Bataille sucht damit nach jenen Ursprüngen der
Menschen, er ist dadurch aber auch aus seinem umfassenden Lebenszusammenhang herausgerissen worden; Reste jenes Ursprünglichen werden
Subjektivität, die durch Ökonomie und Rationalität aus der gesellschaftlichen
Ordnung ausgegliedert und dadurch verfemt worden sind: Die Tabuisierung
von Sexualität und Tod ist Grundlage des gesellschaftsfähig gewordenen domestiziert etwa im Bereich der Religion – man denke an das rituelle Opfer, dessen Struktur Bataille ausführlich analysiert hat –, im Fest, im kalkulierten Rausch durch Suchtmittel. Weniger allerdings sucht Bataille nach den Grund-lagen solcher Subjektivität, sondern nach deren Entgrenzung, und die Grenzüberschreitung etwa zum Sakralen bedeutet nicht die demütige Selbstaufgabe der Subjektivität, sondern ihre Befreiung zur wahren Souverenität. So liest sich denn Batailles Version der Vertreibung aus dem Paradies wie folgt: «Durch die Einführung der Arbeit trat an die Stelle der Intimität, der Tiefe der Begierde und ihrer freien Entfesselung, von Anfang an die rationale Verkettung, bei der es nicht mehr auf die Wahrheit des Augenblicks ankommt, sondern auf das Endergebnis der Operationen – die erste Arbeit begründet die Welt der Dinge. Seit der Setzung der Welt der Dinge wurde der Mensch selbst zu einem der Dinge dieser Welt, zumindest für die Zeit, da er arbeitet.» Duras' Moderato cantabile liest sich unter solchen Prämissen wie die poetische Ausgestaltung von Batailles Philosophie. «Das Kind wandte den Kopf dieser Stimme [seiner Mutter Anne] zu, ihr zu, rasch, eben lange genug, um sich ihres Daseins zu vergewissern. Dann nahm es wieder seine Ding-Haltung an, das Gesicht den Noten zugekehrt», heisst es einmal im Roman. Duras stellt durchgehend jene Ordnung der Dinge, die die bürgerliche Existenz ausmachen und die auch den Menschen selbst der Verdinglichung anheifallen lassen können, dem «Heterogenen» gegenüber. Für ersteres steht die Klavierstunde, die Anne mit ihrem Kind besucht und in der eine Diabelli-Sonatine geübt werden soll, auf dieser Seite stehen auch die Arbeiter einer nahe gelegenen Fabrik, die sich im Roman akustisch immer wieder bemerkbar machen. Das Heterogene hingegen wird repräsentiert durch den Mord, in dem sich Thanatos und Eros untrennbar verbinden, durch den Rausch im Alkohol, dem sich Anne hingibt, durch das erotische Begehren gegenüber Chauvin, schliesslich in der zentralen Festszene, die sowohl bei Duras wie vermehrt noch bei Furrer einen gleichsam sakralen Raum aufspannt. Der Schrei ist letztlich das akustische Signal solcher Überschreitung und Entgrenzung, die mit ihrer Rückbesinnung auf eine befreite Subjektivität zugleich die bürgerliche Ordnung der Dinge zerstört und zersetzt. Beat Furrer greift in den acht Szenen von invocation, die den acht Kapiteln in Duras' Moderato cantabile entsprechen, in doppelter Weise auf diese durch die Brille Batailles gesehene Struktur des Romans zu. Sein Mittel ist einerseits die menschliche Stimme, die in ihrer ganzen Breite zwischen Sprechen, geräuschhaftem Agieren und Singen vorgeführt wird und dadurch etwas von jener verlorenen Intimität fühl- und hörbar machen will, von der Bataille sprach. Andererseits ist es die Form, die sich über weite Strecken am Gedanken des Schreis orientiert. Ganz in der Tradition dialektischen Denkens und Komponierens, in der auch Furrer steht, sind die beiden Mittel also in einen untrennbaren Zusammenhang gebracht. So Beginnt der Abend im Zürcher Schiffbau mit der gesprochenen Rezitation einer Schauspielerin (Olivia Grigolli als Anne). Ihre Stimme, die den Anfang des Romans vorträgt, wird elektronisch verstärkt, und bereits hier wie auch später, wenn die sprechende Anne und der ebenfalls sprechende Chauvin (Robert Hunger-Bühler) am jeweils äussersten Rand der die ganze Breite der Schiffbauhalle ausspannenden Bühne in einen autistischen Dialog geraten, wird im Widerspruch zwischen visueller Distanz und akustischer Nähe (durch die Verstärkung) eine Ahnung verlorener Intimität gegeben. Die Schauspielerin Anne befindet sich zu Beginn im Orchester, und der Sprachfluss geht nahtlos über in den musikalischen; gesprochene Sprache bleibt melodramartig in den feinen Klängen von Furrers erster Szene präsent. Im Verlauf des Abends spaltet sich die Figur Annes auf, als Wasserstoffblondine im Trenchcoat begegnet sie später als Sängerin (Alexandra von der Weth), schliesslich als Flötistin (Maria Goldschmidt): Übergänge werden so gesucht – und gefunden – zwischen gesprochener Sprache und Singen, zwischen Singen und Instrument, wobei die Flöte mit ihren Atemgeräuschen und dem sprechfähigen Klang bereits in Begehren eine Protagonistenrolle spielte. Den einzelnen Sprachen des Librettos ist je eine eigene Musik zugeordnet: Die Sprechstimme rezitiert einzig in Deutsch, die Sopranistin singt auf Spanisch, der Chor in Italienisch, Latein und Altgriechisch. Jede Sprache ruft so nach anderen kompositorischen Lösungen. Und in den beiden Duoszenen zwischen Flötistin und Sopranistin verschmelzen die beiden Klangkörper zu körperhafter Mischung – zumindest täten sie dies, hätte Alexandra
von der Weth dem folgen können, was in der Partitur steht. Übergänge zur Rede und zum Vokalen finden sich auch in der Orchestersprache,
die vom Ensemble «Opera Nova» des Orchesters der Oper Zürich unter der Leitung des Komponisten ausgezeichnet ausformuliert wird. War es in Furrers Begehren das Wort «Schatten», das den akustischen Schlüsselbegriff bildete, so ist es nun der Schrei: Aus feinen, flirrenden Gesten wird in einem grossen Accellerando nach und nach schliesslich ein schreiender Orchesterklang erreicht. Diese erste Szene, die sich in der fünften musikalisch identisch wiederholt, ist gewissermassen die Exposition dieses Schreis, der im folgenden Verlauf auf verschiedenen kompositorischen Ebenen aufgegriffen wird, ohne allerdings je in naturalistischer Weise ausformuliert zu werden: Gehaltene, crescendierende Töne finden sich in den Chorpartien der zweiten Szene, und ganz am Schluss ist die solistische Singstimme ganz ihrer instrumentalen Basis entkleidet, ihr nackter Klang droht ständig zu brechen, gleichsam innerlich schreiend und körperhaft gelangt Musik und Sprache so zu intimstem Ausdruck. Und immer wieder begegnen Steigerungsformen, die allerdings weniger in ihrer unmittelbar entgrenzenden Kraft ins hörende Bewusstsein dringen, sondern eher wahrnehmbar sind als Spannungsbögen beinahe klassischen Zuschnitts. Darin ist Furrers Meisterschaft unübertroffen. Nur in einer Szene gerät die Musik in äusserste Ekstase. Im siebten Kapitel von Duras' Moderato cantabile wird ein Fest geschildert, es erscheint dabei gleichsam als profaner Gottestienst: Ein schwarz gekleideter Mann reicht eine silberne Schüssel mit einem Salm durch die Festgemeinde, «von einem zum andern, einem Rituell folgend». Durch harmonisch in die Höhe führende Rückungen steuert auch das Orchester in der entsprechenden Szene von invocation einem ständig hinausgeschobenen Höhepunkt zu, der Chor intoniert dazu eine orphische, Dionysos gewidmete Hymne. (Hier wie auch andernorts findet das von Peter Siegwart vorbereitete Vokalensemble Zürich zu unerhört schönem und trotz der grossen Schwierigkeiten der Partitur gelöstem Ausdruck.) Die Entgrenzung steht dabei im Zeichen Batailles, der im Fest als einem verschwenderischen Aufbrausen des Lebens jenes Heterogene und damit die Grenzen einer Realität aufscheinen sah, deren Negation es zugleich darstellt. Sowohl dramaturgisch wie musikalisch ist diese Festszene das Zentrum von invocation, aus der im übrigen auch der Titel stammt: Geöffnet wird ein sakraler Raum, der die bürgerliche Ordnung der Dinge – zumindest auf Zeit – zerstört. Christoph Marthaler und Annette Kuss setzen das Geschehen im Bühnenbild von Bettina Meyer und in den Kostümen von Annabelle Witt beinahe oratorienhaft in Szene: Der Chor, die aufgefaltete Protagonistin und ihr Gegenüber sind über weite Strecken eher statisch gestellt denn dynamisch geführt; damit wagt die Inszenierung zwar keinen zusätzlichen interpretatorischen Zugriff, sie öffnet jedoch einen Raum, in dem die Musik sich wunderbar entfalten kann. Zentraler Gedanke ist ein Haus, das wie von Geisterhand bewegt die ganze, riesige
Bühnenlänge gleichsam schwebend durchquert: Es ist das Haus der «Fama», das Furrer mit den Worten Ovids in der vierten Szene besingt: «Es gibt einen Ort in der Mitte des Erdkreises, […] von dort kann man alles, was irgendwo geschieht, sehen, […] und jede Stimme dringt an das lauschende Ohr.» In grosser synthetischer Bewegung zieht Furrer die musikalischen Motive seiner Oper darin zusammen. Überhaupt gehört Furrers invocation mit ihrem Beziehungsreichtum sowohl innerhalb des Werkes wie auch in seinen Beziehungen zur gedanklichen Aussenwelt zum Grossartigsten und Bewegendsten, was man derzeit im Bereich Musiktheater sehen kann. Beat Furrers Musik arbeitet sowohl im Grossen wie im Kleinen mit Wiederholungen, durch die Überlagerung sich selbsttätig entwickelnder Bewegungsabläufe befindet sich die Musik in ständiger Verwandlung. Nicht selten führt dies zu einer ganz spezifischen Zeitwahrnehmung: Zeitlichkeit scheint gleichsam gestoppt, stillgestellt. Dies ist auch eine prägende Erfahrung in einem weiteren, nun am Theater Aachen uraufgeführten Musiktheaterwerk, die perser, des 1971 in Graz
geborenen, heute in Berlin lebenden Komponisten Klaus Lang, der übrigens
mit Furrer einen künstlerischen Dialog pflegt, so gar in einer Gemeinschaftskomposition.
Auch in die perser wird – gar noch pointierter als bei Furrer – auf jegliche
narrative Elemente verzichtet: Mit radikalem Gestus nimmt die Oper
davon Abstand, Handlungen zu interpretieren oder auf dramaturgische Höhepunkte hinzuzielen, Figuren werden nicht in ihrer psychologischen Tiefe, sondern in ihrer typologischen Struktur auf die Bühne gebracht, und jene Ausdruckscharaktere, die die alte Tante Oper zu ungeahnten Höhen kultiviert hat, weichen statischen Klangzuständen, in denen sich klanggewordene Zeit eigentümlich entfalten kann. Gerade solche strukturellen Verwandtschaften zu seinem eigenen Denken in Musik hätten ihn, so Lang zu seinem selbst eingerichteten Libretto, an AischylosÕ erstem überlieferten Drama, ai persai, fasziniert: Vier Mal wird darin das gegen die Griechen ausziehende Heer des persischen Königs Xerxes geschildert, vom Lob seiner Stärke bis zur Klage seines Untergangs, und vier Personen wird solche Schilderung listenartig in den Mund gelegt, Xerxes (Gundula Peyerl) selber, seiner Mutter Atossa (Sibylle Fischer) und dem Geist seines Vaters Dareios (Claudius Muth), schliesslich einem Boten (Andreas Joost). Aus vier grossen Formteilen besteht denn auch die Musik, und das Bestreben, Inhalt und Struktur von AischylosÕ Drama nicht psychologisch, sondern streng formal zu deuten, setzt sich fort in einer ganzen Reihe von Zahlen- und Intervallverhältnissen. Zwischen die vier grossen Abschnitte, die mit Anspielung an die vier Jahreszeiten nicht gerichtet, sondern zyklisch strukturiert sein wollen, sind drei weitere, anders geartete Teile wie Säulen eingelassen, die je ebenfalls drei mal vorkommen. Die Dreizahl setzt sich fort in der Disposition des Orchesters (mit jeweils dreifacher Bläserbesetzung) oder in der Dauer der erwähnten Säulen. Die «Hirtenmusik», dargeboten von zwei Piccoloflöten, sollen eine idyllische Idealwelt abgeben, die Schattenmusiken repräsentieren die Unterwelt des verstorbenen Königs Dareios. Sie haben jeweils eine Dauer von drei Minuten, demgegenüber dauern die drei «the cowboy» überschriebenen Teile, die als einzige äusserst laut und starr sind, jeweils sechs Minuten: Die Zahl 666 repräsentiert die diabolische, von Gewalt geprägte Seite des Dramas, die Dreizahl hingegen ist letztlich ein Hinweis auf die Trinität. Und auch die Personen, eher typisiert als charakterisiert, werden durch Zahlverhältnisse in Beziehung gebracht: Der Zentralton gis ist dem verstorbenen, guten König Dareios zugeordnet, seinem Bass als weitest entfernte Stimmgattung der Koloratursopran des sich an Hybris schuldig gemachte XerxesÕ entgegengestellt, sein Zentralton ist das d, also im Tritonusverhältnis zu Dareios; Atossa hingegen ist mit ihrem ais der Welt des Dareios (Doppelquintverhältnis) bereits näher verwandt – so liesse sich weiterfahren. Zusammengefasst: Musik ist für Lang nicht primär Ausdruck oder Kommunikation, sondern Form, und gerade hierin sieht er eine Verwandtschaft im altgriechischen Drama. Die unterschiedlichen Berichte sind allerdings nicht in eine zielgerichtete dramaturgische Entwicklung eingebunden, die Schilderungen der vier Protagonisten, einzig in syllabischer Deklamation oder melismatischen Vokalisen vorgetragen, sind meist übereinandergelegt, und schon allein daraus wird ersichtlich, dass Lang ein grosser und grossartiger Kontrapunktiker ist – allerdings auch hier im Sinne einer Neuinterpretation der Tradition. Orchester und Chor nämlich, die sich weitgehend selbständig entwickeln, bestehen nicht aus einem dichten Stimmengeflecht, vielmehr ist die polyphone Arbeit auf die einzelnen Parameter des Klanges angewendet: Tonhöhen, Rhythmus und Klangfarbe etwa werden unabhängig voneinander in zeitlupenartigen Glissandobewegungen und nach genau vorgegebenen Strukturmustern in Verlaufsformen gefasst, worin die sich langsam entwickelnden, statischen Klangflächen bisweilen auf einer einzigen Tonhöhe oder einem homophonen Rhythmus verknoten können. In den Jahreszeitenmusiken beispielsweise, durchgehend im Pianissimo gehalten, wird aus dem Zentralton gis heraus eine rhythmische Struktur so aufgefaltet,
bis der ganze Ambitus des Orchesters auf einem einzigen Schlag erreicht ist. Zeitlupenartig findet dies statt, und Lang interessiert sich dabei für kaum wahrnehmbare Veränderungen, die die Mitte suchen zwischen Fliessen und Erstarrt-Sein. Die Inszenierung des Aachener Hausherrn Peter Esterhazy verdeutlicht solche Strukturen: Er stellt ein Regal auf die Bühne, jeder Figur ist ein eigenes Fach zugeordnet, und die Lichtführung verdeutlicht visuell das musikalische Formgeschehen. So sehr dieses Grundkonzept überzeugen mag, so wenig sensibel ist die Personenführung, die bisweilen fast slapstickartig wirkt und damit der flächigen Weite der Musik diametral entgegensteht. Die Oper gerät dabei sowohl szenisch wie klanglich zu einem statischen Bild ohne Zeit. Doch wie so oft, wenn subjektive Ausdrucksregungen mit allen Mitteln der Kunst ausgetrieben werden, treten sie durch die Hintertür um so unvermittelter wieder ein: Langs Wiedergeburt der Oper aus dem Geist des Glissandos berührt eigentümlich, rührt an Schichten des hörenden Bewusstseins, deren Herkunft zu den ungeborgenen Geheimnissen unserer Wahrnehmung gehören mag.
PATRICK MÜLLER